Superwahljahr 2011 Vorzeige-Politiker: Die Bürger-Meister

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Rückkehr der Dienstleister

Boris Palmer Quelle: Andreas Körner für WirtschaftsWoche

Walter Scheuerl hat es kommen sehen. Die SPD sei in Hamburg gegenwärtig die Partei der Mitte, sagt er respektvoll, stets am Problem und seiner Lösung orientiert – auch wenn er das ein oder andere Ziel der Sozialdemokraten nicht teile. Scheuerl hat in den vergangenen zwei Jahren ein Politikverständnis entwickelt, das sich in seiner altmodischen Seriosität radikal von dem der professionellen Strömungslenker in den Parteizentralen unterscheidet. Als Beschwerdeführer der Bürgerinitiative „Wir wollen lernen!“ hat er den Einspruch gegen die Einführung einer sechsjährigen Primarschule angeführt – und den Beweis geliefert, dass es eine immense Nachfrage nach ernsthafter Politik gibt, die sich weder durch Machtworte der politischen Elite noch durch den Einfluss ihrer Marketingexperten und Social-Network-Manager außer Kraft setzen lässt. „Ich glaube, dass unser Protest zu einer Repolitisierung der Politik beigetragen hat“, sagt der Rechtsanwalt – und er meint das durchaus antikisch: So wie „Freiheit“ in Griechenland vor allem Teilhabe am Staat und nicht Freiheit vom Staat gemeint hat, so sehr seien auch die Freiheitsbürger heute, sagt Scheuerl, zur „aktiven Gestaltung ihres Gemeinwesens“aufgerufen – nicht zuletzt deshalb, weil jede aufrichtig gemeinte Einmischung positive Rückkopplungen mit dem politischen Betrieb nach sich ziehe: „Die Regierenden lernen sich wieder als Dienstleister kennen.“

Oder sie nehmen ihren Hut, weil sie sich weigern, neue Bekanntschaft mit ihrem Beruf zu schließen. Ole von Beust hat nicht den Dialog mit seinen Bürgern gesucht, sondern den Druck auf sie erhöht, er hat sein politisches Schicksal mit dem „Ja“ der Hamburger zur Schulreform verbunden – und seinen Gegnern sozialen Rassismus vorgeworfen. Nichts hat von Beust mehr geschadet als der Dünkel des Regierenden, es besser zu wissen als die Regierten, als die Hoffart des Politikers, nicht nur von der Überlegenheit seiner Meinung überzeugt zu sein, sondern sie auch noch als Dienst am Gemeinwohl durchsetzen zu wollen – gegen die Mehrheit. Die explodierenden Kosten der Elbphilharmonie, die Havarie der HSH Nordbank, die Erhöhung der Kita-Gebühren, die Tit-for-Tat-Politik einer Koalition, die zur wechselseitigen Machtstabilisierung ein Kohlekraftwerk mit der Stadtbahn und die Vertiefung der Elbe mit der Schulfrage verrechnete – das alles hätten die Hamburger der CDU verziehen, wenn die Partei nicht plötzlich, ohne Diskussion und argumentative Vorbereitung, an Hamburger Kindern das Exempel einer mustergültigen Bildungspolitik hätte statuieren wollen.

Warum aber stehen dann ausgerechnet die Grünen in diesem Superwahljahr vor historischen Erfolgen, also die Partei, die sich noch nie gescheut hat, ihren Idealen gesetzgeberisch auf die Sprünge zu helfen? Weil es heute schick ist, fair zu handeln, fair einzukaufen – und fair zu wählen? Henning Voscherau sagt, der Erfolg der Grünen verdanke sich der „emotionalen Identifizierung mit einer Partei, die sich in Einklang mit dem Lebensgefühl einer Gesellschaft befindet, die ihre ökonomischen Probleme für gelöst hält“. Man habe es bei den Grünen, meint der frühere Hamburger SPD-Bürgermeister, nach wie vor mit einer „idealistischen, manchmal ideologischen“ Partei zu tun, die es noch immer nicht geschafft habe, „sich bei der Umsetzung ihrer anspruchsvollen Wünsche als pragmatische Bearbeiterin von Zielkonflikten“ zu erweisen. Dass moderne Politik in einer komplexen Welt mehr denn je Entscheidungen zu treffen habe, die nicht richtig oder falsch seien, sondern beides zugleich, dass sie sich daher für Wachstum und Umweltschutz, für individuelle Differenz und Gemeinsinn, für Leistung und Solidarität einzusetzen habe – das sei den moralzuchtmeisterlichen Grünen mit ihrem ausgeprägten Sendungsbewusstsein nach wie vor fremd.

Boris Palmer ist so ein grüner Missionar – nur moralisch, das ist er nicht, im Gegenteil: Palmer ist ein Propagandist der Aufklärung – die quicklebendige Antithese zum schlecht gelaunten Fortschrittshemmer. Der Mathematiker ist Bürgermeister von Tübingen, kommunaler Klimaschützer und engagierter Befürworter von „Stuttgart 20“, also eines Bahnhofs, wie er ist und bleiben soll. Palmer hat klar definierte Ziele; er setzt nicht nur Prioritäten, sondern will sie auch durchsetzen – mit der Beweiskraft von Fakten und der Evidenz des besseren Arguments. „Am Anfang aller Politik“, sagt Palmer, „steht nicht Weltanschauung, sondern Analyse.“

Keine Lust auf landesväterlichen Absolutismus

Für Palmer liegt der Erfolg der Grünen nur vordergründig darin, „dass wir bereits vor 30 Jahren Themen bearbeitet haben, die heute von hegemonialer Bedeutung sind“. Viel entscheidender sei, dass seine Partei eine Politik anbiete, die dem Fortschritt eine Richtung weise und sich nicht in Fortschreiterei erschöpfe. Der Wohlstandsbürger, da ist sich Palmer sicher, will sich nichts vorschreiben lassen, weder die Schule für seine Kinder noch die Wahl seiner Verkehrsmittel; er will nicht beeinträchtigt werden, weder durch Bahnhofsbaustellen noch durch Windkraftanlagen. Moderne Politik habe daher zwei Aufgaben zu erfüllen: Sie muss die Einzelinteressen ihrer Bürger ernst nehmen – und den Nachweis führen, dass es zuweilen übergeordnete Interessen gibt, die wichtiger sind. „Gute Politik“, sagt Palmer, „ist gnadenlos transparent. Sie muss laufend nachweisen, dass sie die besseren Argumente hat – zum Wohle des Ganzen.“

Es ist kein Geheimnis, dass Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) diesem Anspruch nicht immer genügt und einen eher traditionellen Politikstil der tätigen Machtausübung bevorzugt. Mappus hat vorsätzlich Steuerkriminelle geschont und auf den Ankauf einer CD mit Sünderdateien verzichtet. Er hat mit der Hilfe eines Banker-Kumpels Anteile am Energieversorger EnBW zurückgekauft, den Deal am Parlament vorbei eingefädelt – und sich zu seinem tollen Coup beglückwünscht. Und natürlich hat er den Protest am Stuttgarter Bahnhof auffegen lassen, um aus vorgeblicher Sorge um den Wirtschaftsstandort den Nachweis seiner politischen Durchschlagskraft zu erbringen. Vor allem aber war Mappus vollkommen überrascht, dass seine Zuchtbullenpolitik nicht mit Beifall bedacht wurde. Erst seit Heiner Geißler (CDU) den Bahnhofstreit befriedet hat und er selbst dazu übergegangen ist, jeden Morgen Kreide zu fressen, hat er den Abwärtstrend der CDU stoppen können. Noch immer aber rangiert die schwarz-gelbe Koalition in ihrem Stammländle zehn Punkte unter Niveau. Ganz gleich also, ob Mappus am 27. März die Nase vorn hat oder nicht – die Zeiten eines landesväterlichen Absolutismus sind auch im Südwesten der Republik passé.

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