Superwahljahr 2011 Vorzeige-Politiker: Die Bürger-Meister

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Mehr Lebensnähe, bitte

Lisa Federle Quelle: Andreas Körner für WirtschaftsWoche

Fragt man Lisa Federle, kann der CDU in Baden-Württemberg etwas mehr Sinn für Machtbeschränkung und Lebensnähe nur gut tun. Federle ist eine alleinerziehende Mutter von vier erwachsenen Kindern, ehrenamtlich engagiert im Gemeinderat der Stadt Tübingen und im Kreistag, im Deutschen Roten Kreuz und im örtlichen Frauenhaus: „Immer im Einsatz“, so wirbt sie für sich und: „Mitten im Leben.“ Federle entstammt einem pietistischen Elternhaus, sie wächst mit Flechtzöpfen auf und Hahn’schen Erbauungsstunden. Als sie elf ist, stirbt der Vater, ein Professor, Lisa bleibt zweimal sitzen, schmeißt die Schule, reißt sich von zu Hause los und wird mit 17 schwanger: „Ich hatte von nichts ’ne Ahnung.“

Mit 19 erwartet sie ihr zweites Kind, sie schlägt sich als Putzfrau und Wirtin durch, holt ihren Hauptschulabschluss nach, das dritte Kind vom zweiten Mann erwartet sie kurz vor dem Abi, das vierte während des Medizinstudiums, in ihrer Doktorarbeit setzt sie ihre Erfahrung als Wirtin um, schreibt über Alkoholismus. „Ich habe viel erlebt und viel gearbeitet“, sagt die Notärztin heute: „Mir macht so leicht keiner was vor.“

Vor zwei Jahren tritt Federle aus der SPD aus, der sie gewohnheitsmäßig angehört – und läuft zur CDU über. Der Ypsilantismus in Hessen macht sie fassungslos, das Machtnuttenverhalten, die Wahllüge, die Linksflirterei, die rote Opferrhetorik. Mag sein, dass Federle sich nicht mit Ludwig Erhard und Oswald von Nell-Breuning auskennt, aber was das Leben lehrt, das weiß sie genau: Man muss Geld haben, bevor man es verteilen kann; man kann im Leben stolpern, aber man kann auch wieder aufstehen. Federle kandidiert bei den Kommunalwahlen; die Menschen mögen sie und ihre Biografie – und krönen sie zur Stimmkönigin.

Als es aber im vergangenen Spätsommer darum geht, wer sich für die CDU um einen Platz im nächsten Landtag bewerben soll, übt sich der konservative Teil der Partei in übler Nachrede, leert kübelweise Schmutz über Federle und ihr Leben aus. Zu den polithygienischen Tiefpunkten der Kampagne gehören verschwundene Stimmzettel und ein Aufnahmestopp für Neumitglieder – vergebens: Die Landes-CDU fällt immer tiefer in den Umfragekeller, und eine Mehrheit der Tübinger CDU findet, dass allein Federle noch eine Chance gegen die Grünen hat.

Uwe-Volkmar Köck Quelle: Christoph Busse für WirtschaftsWoche

„Es kann sein“, sagt Federle, „dass ich am Ende auch aus wahltaktischen Gründen gewonnen habe.“ Und wenn schon. Lisa Federle hat lange genug überlegt, warum sie sich das alles antut. Sie weiß, wie das Leben spielt – und nimmt es, wie es kommt. Sie kann mit der familienpolitischen Idyllenpflege in ihrer Partei nichts anfangen und fordert ausreichend KitaPlätze. Sie will die soziale Blindstelle in ihrer Partei ausfüllen, weil sie täglich vom Ende her erlebt, wozu Stress, Angst, Armut und Jobverlust führen können.

Auch wenn sie es schaffe in den Landtag, sagt Federle, wolle sie als Notärztin „immer im Einsatz“ bleiben. Um zu retten, was zu retten ist: auf der Straße und in der Politik, mit der Mappus-CDU, gewiss, aber notfalls auch gegen sie: „Meinen Mund“, sagt Federle, „werde ich mir jedenfalls nicht verbieten lasen.“

Eigentlich, sagt Biologe Uwe-Volkmar Köck, müsste der politische Organismus andersrum aufgebaut sein: Die Parteizentralen in Berlin hören ihren Mitgliedern zu, sammeln Vor-Ort-Erfahrungen und bündeln sie zum Programm: Alle Theorie leitet sich aus der politischen Praxis ab. In Wahrheit verhalte es sich genau umgekehrt: Die Parteien entwerfen eine Theorie – und suchen die Wirklichkeit an sie anzupassen. Und wenn die Realität nicht zur Ideologie passt, dann umso schlimmer für die Realität.

Köck ist ein praktizierender Linker, er war es in der DDR, und er ist es heute. Nirgends in Sachsen-Anhalt ist die Linke so erfolgreich wie in seinem Wahlkreis, 35 Prozent, das ist das Ziel in Halle-Neustadt, dem sozialistischen Wohnparadies aus den Siebzigerjahren: eine Stadt der kurzen Wege, mit Schwimmhalle, Kino, Stadion, gebaut für die Ingenieure und Arbeiter der Chemiekombinate in Buna und Leuna. Heute ist Halle-Neustadt so etwas wie ein Mahnmal des Untergangs der DDR.

Hochachtung für die Konkurrenz

Die Einwohnerzahl hat sich halbiert, die Siedlung wurde zurückgebaut, entkernt, begrünt, an einer Stelle modernisiert, an einer anderen abgerissen, doch vier der fünf Zentralbauten stehen seit mehr als 15 Jahren leer: Denkmäler der Hoffnungslosigkeit. Aber Köck kämpft um sie, immer noch und immer weiter, um die Hochhäuser und um Halle-Neustadt, im Stadtrat und im Magdeburger Landtag, immer unterwegs für seine untergehende Heimat.

Andreas Schachtschneider hat für seinen Konkurrenten nur Hochachtung übrig. Der CDU-Mann kämpft Seit’ an Seit’ mit Köck, für den Erhalt des Friedhofs zum Beispiel, damit sich der Abstieg der Neustadt nicht beschleunigt. Der große Unterschied zwischen den Linken und der CDU sei, so Schachtschneider, dass die Linken ihr Wahlkreisbüro immer in Neustadt hatten „und wir nicht“. In Wirklichkeit kämpfe er nicht gegen Köck, sondern gegen begründete Vorurteile – und gegen eine Berliner Regierungspolitik an, die „nicht den Eindruck erweckt, als würde sie sich für unsere Belange interessieren“. Und die Linke in Berlin, die interessiert sich? „Na ja“, sagt Köck, „es würde schon helfen, wenn sie endlich aufhören würde, vom Kommunismus zu schwafeln. Als ob wir von dem nicht genug gehabt hätten.“ 

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