Tarifpolitik Der Staat mischt in der Lohnfindung immer stärker mit

Mithilfe des gesetzlichen Mindestlohns wollen die Gewerkschaften bislang tariffreie Zonen für sich erschließen. Doch der Preis ist hoch: Der Staat wird zu einem immer mächtigeren Akteur in der Tarifpolitik.

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Hier bin ich! Angela Merkel auf dem Gewerkschaftskongress der IG Metall Quelle: Laif

Keine Frage: Ein Tempo wie Andrea Nahles legt derzeit kein anderes Kabinettsmitglied der großen Koalition an den Tag. Nachdem die Bundesarbeitsministerin in Rekordzeit ihren Gesetzentwurf für die Rente mit 63 vorgelegt hat, will die SPD-Politikerin bis zur Sommerpause auch das zweite Prestigeprojekt ihrer Partei in Gesetzesform gießen: den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Wie bei den Rentenplänen warnen Experten zwar auch hier vor massiven Kollateralschäden. Dafür aber gibt es lauten Beifall von einer wichtigen Klientel – den Gewerkschaften.

„Der Mindestlohn schützt vor einer Unterhöhlung der Tarifstruktur und stabilisiert das gesamte Tarifsystem in Deutschland“, lobt etwa der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske. Michael Sommer, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), konstatiert: „Der Mindestlohn ist der erste Schritt zu einer neuen und gerechteren Ordnung der Arbeit.“ Die Arbeitnehmervertreter hoffen, mithilfe des Mindestlohns den Niedriglohnsektor auszutrocknen und in gewerkschaftsfernen Bereichen mit niedriger Tarifbindung einen Fuß in die Tür zu bekommen, etwa im Dienstleistungssektor.

Doch nicht wenige Ökonomen und Arbeitsrechtler halten diese Strategie für riskant. Die Tarifautonomie in Deutschland gilt alles in allem als Erfolgsmodell. Dass sich die Politik bei der Lohnfindung heraushält und diese den Betroffenen in den einzelnen Branchen überlässt, galt in den vergangenen Jahrzehnten als Pluspunkt der deutschen Wirtschaftsordnung.

„Der gesetzliche Mindestlohn dürfte für die Gewerkschaften zu einem organisationspolitischen Eigentor werden“, sagt Thomas Lobinger, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Heidelberg. „Im Lohnbereich um die 8,50 Euro gibt es für die Beschäftigten dann erst recht keinen Anreiz mehr, in die Gewerkschaft einzutreten. Es wird sich bei Geringverdienern das Bewusstsein durchsetzen: Der Staat kümmert sich um uns.“ Nicht von ungefähr sind in Industriestaaten mit besonders hohen Mindestlöhnen die Gewerkschaften häufig besonders mitgliederschwach. In Frankreich etwa mit seinem Garantielohn von 9,53 Euro sind nur rund zehn Prozent der Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft.

Reaktionen von Unternehmern auf den möglichen Mindestlohn Quelle: ASU-BJU-Umfrage

Gewerkschafter der alten Garde wie Jörg Barczynski sind denn auch fassungslos. Der heute 73-Jährige war 25 Jahre Sprecher der IG Metall, er diente unter vier Vorsitzenden und galt als einer, der den Gewerkschaftsbossen schon mal sagte, wo es langgeht. Mittlerweile aber versteht er seine Gewerkschaft nicht mehr: „Ich weiß nicht, was die derzeitige IG-Metall-Führung umtreibt. Dass die Gewerkschaften den gesetzlichen Mindestlohn unterstützen, halte ich für organisationspolitischen Wahnsinn.“

Aber auch viele Unternehmer machen sich wegen des lohnpolitischen Vormarsches der Politik Sorgen: 72 Prozent der Arbeitgeber glauben, ein gesetzlicher Mindestlohn beschädige die Tarifautonomie in Deutschland. Das hat eine Umfrage der Wirtschaftsverbände Die Familienunternehmer-ASU und Die Jungen Unternehmer-BJU exklusiv für die WirtschaftsWoche ergeben (siehe Grafik). „Die Folgen von künstlichen Lohnuntergrenzen, die in keiner Weise marktgerecht sind, können für einzelne Unternehmer verheerend sein“, warnt Lutz Goebel, Präsident der Familienunternehmer.

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