Tarifverhandlungen Pilotabschluss für Metall- und Elektrobranche

Der Abschluss für die Metall- und Elektroindustrie steht – und ist an Komplexität kaum zu überbieten. Zufrieden sind die Beteiligten dennoch. Nun müssen sie die vielen Neuerungen nur noch vermitteln.

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Nach heftigen Warnstreiks und einer Marathon-Verhandlung haben sich IG Metall und Arbeitgeber auf einen wegweisenden Pilot-Tarifabschluss geeinigt. Die Beschäftigten haben bei ihrer Arbeitszeit künftig deutlich mehr zu sagen, lautet das wichtigste Ergebnis der in der Nacht zum Dienstag in Stuttgart abgeschlossenen Verhandlungen für das Tarifgebiet Baden-Württemberg. Neben der allgemeinen Teilzeitmöglichkeit mit vollem Rückkehrrecht in Vollzeit vereinbarten die Tarifpartner kräftige Lohnsteigerungen und Sonderregeln für Beschäftigte in besonderen Lebenslagen.

„Wir haben um jedes Detail hart gerungen“, sagte IG-Metall-Verhandlungsführer Roman Zitzelsberger nach der sechsten Verhandlungsrunde. Die Gewerkschaft hat durchgesetzt, dass die Beschäftigten zusätzlich zur Entgelt-Erhöhung von 4,3 Prozent ab April 2018 für die Monate Januar bis März 2018 eine Einmalzahlung von 100 Euro erhalten. In einer zweiten Stufe gibt es von 2019 an in ähnlicher Höhe ein jährliches tarifliches Zusatzgeld von 27,5 Prozent eines Monatseinkommens und einen Festbetrag von 400 Euro. Der Festbetrag kann in wirtschaftlich schweren Zeiten gesenkt oder gestrichen werden, was laut Gesamtmetall vor allem für kleinere und wirtschaftliche schwächere Unternehmen wichtig sei.

Die Beschäftigten können künftig ohne Lohnausgleich für bis zu zwei Jahre ihre Wochenarbeitszeit auf 28 Stunden senken. Die Tarifpartner kommen damit einer gesetzlichen Regelung zuvor, wie sie die Verhandler einer Großen Koalition in Berlin anstreben. Im Gegenzug dürfen Betriebe mit mehr Beschäftigten als bisher 40-Stunden-Verträge abschließen. Die IG Metall lockerte Regelungen, um in ausgelasteten Betrieben mehr Arbeit jenseits der 35-Stunden-Grenze zu ermöglichen.

Die Vier vor dem Komma schmerze, sagte Südwestmetall-Chef Stefan Wolf nach den Verhandlungen. Immerhin habe man mit der langen Laufzeit von 27 Monaten für Planungssicherheit der Arbeitgeber gesorgt. „Ich glaube, das neue Tarifsystem ist vernünftig ausbalanciert.“ Indes werde nicht nur die Höhe des Abschlusses, sondern auch seine Komplexität für viele Betriebe schwer zu tragen sein. Sie müssen laut Verband über die Laufzeit mit jährlich 3,5 Prozent zusätzlichem Personalaufwand klarkommen. Die Nutzung von Teilzeit und 40-Stunden-Verträgen soll in zwei Jahren überprüft werden.

Auch ein besonders strittiger Punkt wurde geklärt: die Forderung der IG Metall, dass Gruppen wie Schichtarbeiter, pflegende Angehörige oder Eltern junger Kinder einen Zuschuss für entgangenen Lohn erhalten sollen. Sie können nun statt dem für alle vereinbarten tariflichen Zusatzgeld acht Tage Freizeit wählen, unabhängig von Arbeitszeitverkürzung. Nach Lesart der IG Metall tragen davon die Arbeitgeber zwei Tage. „Natürlich ist dieser Zuschuss ausbaufähig. Aber wir haben damit ein Veto der Arbeitgeber durchbrochen“, sagte Jörg Hofmann, der Erste Vorsitzende der IG Metall.

Die Bundesvorstände der Tarifparteien lobten die Lösungen. „Wir haben heute den Grundstein für ein flexibles Arbeitszeitsystem für das 21. Jahrhundert gelegt“, sagte Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger. Die schmerzhafte Kostenbelastung spiegele die im Schnitt gute wirtschaftliche Lage der Branche wider und sei den Mitgliedern noch zu vermitteln. Wichtig sei die Möglichkeit, das Arbeitsvolumen sogar auszuweiten. IG-Metall-Chef Hofmann wertete den Abschluss als „Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen, selbstbestimmten Arbeitswelt“. Viel zu lange sei Flexibilität bei der Arbeitszeit ein Privileg der Arbeitgeber gewesen.

Dulger kritisierte, dass nicht schon in der fünften Runde ein Abschluss gelang. „Wir hatten den Eindruck, dass der IG Metall die Streiks wichtiger waren als ein Abschluss.“ Hofmann wies die Kritik an den Tages-Warnstreiks mit rund 500.000 Teilnehmern zurück. „Wir hatten das jetzt abgeschlossene Volumen einfach nicht auf dem Tisch und waren bei verschiedenen Details noch sehr weit auseinander.“

Kritische Töne kamen vom Maschinenbauverband VDMA und dem Arbeitgeberverband in Bayern. Zwar begrüße man den Tarifabschluss, der den Unternehmen besonders lange Planungssicherheit verschaffe. Aber: „Wir hätten uns einen weniger komplexen Tarifvertrag gewünscht“, teilte der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie, Bertram Brossardt, mit.

Der Verband sprach sich für eine Übernahme des Vertrags in Bayern aus. Dort wie im Tarifgebiet Küste beginnen die Verhandlungen an diesem Donnerstag. Die Einigung in Baden-Württemberg gilt als Pilotabschluss für die deutschlandweit rund 3,9 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie. In der Regel übernehmen die übrigen Tarifbezirke den Abschluss des Pilotbezirks.

Im Osten bleibt ein wichtiges Problem vorerst ungelöst. Die Arbeitgeber lehnen eine Angleichung der Wochenarbeitszeit von 38 auf 35 Stunden wie im Westen ab. „Der Osten braucht diesen Wettbewerbsvorteil weiterhin. Die längere Arbeitszeit muss bleiben“, sagte Gesamtmetall-Präsident Dulger. Die IG Metall beharrt aber auf einer belastbaren Verhandlungsverpflichtung zur Arbeitszeit. Gesamtmetall habe sich auch verpflichtet, diese Regelung den Mitgliedsverbänden im Osten zu empfehlen, sagte Hofmann. Ein Streik der IG Metall zur Erzwingung der 35-Stunden-Woche im Osten war 2003 gescheitert.

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