Tauchsieder

Liberalismus der Furcht

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Alle Formen von Macht als Bedrohung der Freiheit

Keine politische Philosophie ist so kalt und inhaltsleer wie der Liberalismus – und keine zugleich so anspruchsvoll. Wahrscheinlich deshalb steckt die Idee der Freiheit ständig in der Krise.
von Dieter Schnaas

Zweitens ist der Liberalismus der Furcht darum bemüht, alle Formen von Macht als Bedrohung der Freiheit zu identifizieren, also nicht nur staatliche Macht, sondern zum Beispiel auch die Macht, "die Wirtschaftsunternehmen auf sich vereinen". Im Lichte eines solchen Liberalismus enden unternehmerische und persönliche Freiheit exakt da, wo sie die Freiheit anderer aufzehren. Ein Liberalismus der Furcht hat seinen Ausgangspunkt in den Fabriken von Bangladesch, nicht in den Handelsräumen der Wall Street.

Er verwahrt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegen die algorithmische Ausbeutung von Informationen durch digitale Großkonzerne. Sein Maßstab ist nicht die Freiheit des Arbeitgebers, seine Angestellten nach Gutsherrenart zu befehligen und mit ein paar Euro abzuspeisen, sondern die Freiheit des Angestellten, vor Drohungen und schlecht bezahlter Rumschubserei sicher zu sein. Die Quintessenz eines Liberalismus der Furcht lässt sich daher in einen einzigen, gehaltvollen Satz zusammenfassen: Frei ist, wer nicht erniedrigt, verletzt und gedemütigt werden kann. 

Wäre also der Streit darüber, was liberal ist und was nicht, fruchtbarer, wenn man sich ihm nicht über die Freiheit nähert, sondern über die Unfreiheit? Dafür spricht erstens, dass sich die Begriffe von Furcht und Unfreiheit, wie gezeigt, nur "im Lichte des lokal bereits Gesicherten" (Bernard Williams) sinnvoll diskutieren lassen: Die Vermeidung der Unfreiheit eines syrischen Flüchtlings ist selbstverständlich existenzieller als die Vermeidung der Unfreiheit eines hierzulande Unbeschäftigten, der sich mit Arbeitslosengeld II über die Runden rettet.

Aber das heißt nicht, dass die Unfreiheit des Arbeitslosen kein Thema wäre für den Liberalismus. Und dafür spricht zweitens, dass ein Liberalismus der Unfreiheit den Libertarismus als das demaskiert, was er ist: der liberal camouflierte Egoismus der Starken, der nicht die Ausweitung der Freiheitszone im Sinn hat, sondern die Ausweitung der Machtzone. Anders gesagt: Gegen Libertäre gewendet, ist der Liberalismus der Furcht vor allem dazu da, "der Freiheit selbst Grenzen zu setzen" (Michael Walzer).

Der Weisheit letzter Schluss aber ist Shklars Liberalismus der Furcht deshalb noch lange nicht. Ein Kardinalproblem bleibt: Wie lässt sich bestimmen, bis in welche Freiheitsbezirke hinein man mit den Begriffen von Furcht und Unfreiheit sinnvoll operieren kann, ohne dass Anlass besteht, sich vor der Furcht der Fürchtenden fürchten zu müssen? Bereits Nietzsche hat das Mitleid als Macht gedeutet, mit der die Schwachen sehr wirkungsvoll die Freiheit der Starken einzuhegen pflegen. Und Peter Sloterdijk hat definitiv einen Punkt, wenn er sagt, dass dem deutschen Sozialstaat nach Jahrzehnten der kraftvollen Aufblähung eine Tendenz zur Ausbeutungsumkehrung innewohnt, weil die Reichen schon lange nicht mehr unmittelbar auf Kosten der Armen leben wie ehedem, sondern die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven.

So gesehen, ist die Vermeidung von Unfreiheit als Bezugspunkt liberalen Denkens genauso vage und politisch ausbeutbar wie die Beschwörung von Freiheit. Deshalb wäre schon viel gewonnen, wenn der Liberalismus schon immer an die Unfreiheit denkt, wenn er von der Freiheit spricht und umgekehrt: wenn der Liberalismus immer schon an die Freiheit denkt, wenn er von der Unfreiheit spricht. Anders gesagt: Liberal ist, wer furchtsam hofft und sich hoffend fürchtet.

Literaturhinweise: Judith Shklar, Der Liberalismus der Furcht, Matthes & Seitz, 2013, 14,80 Euro; Peter Sloterdijk, Stress und Freiheit, Suhrkamp, 2011, 8,00 Euro

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