Tauchsieder

Deutschland profitiert von einer Großen Koalition

Kaum ist die FDP abgewählt, sorgen sich ihre publizistischen Verteidiger um die „ökonomische Vernunft“ in Berlin. Was für ein Unsinn. Die Große Koalition ist eine Koalition der Chancen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Okay, liebe Politiker von Union und SPD, eine Woche Taktiererei und Selbstbeschäftigung reicht – jetzt bitte mal raus aus den Schützengräben, rein in die Große Koalition und ran an die Arbeit. Lasst Euch bloß nicht kirre machen von den BDI-Bossen und Managern, die die krachende Niederlage der so genannten Liberalen nicht verwinden können und die Zersplitterung des „bürgerlichen Lagers“ beweinen. Lasst Euch nicht beirren von leitartikelnden Eckenstehern, die deshalb das Ende der „ökonomischen Vernunft“ erschnüffeln und in den nächsten Wochen mal wieder mit gewohnt argumentationsarmer Heftigkeit einen „Linksruck“ nach dem anderen herbeihalluzinieren werden, weil sie den „Staat auf dem Vormarsch“ wähnen und den Kommunismus am Horizont aufscheinen… Es ist nämlich erstens so, dass ihr beide ganz gut miteinander könnt. Und zweitens, dass Deutschland davon keinen Schaden nimmt, im Gegenteil: dass Deutschland davon profitiert.

Ich weiß, es schickt sich nicht, Leichen zu fleddern, aber weil die FDP keine Leiche ist, sondern neue Mitglieder hinzugewinnt und in vier Jahren ganz bestimmt wieder zurück in den Bundestag kehrt, muss es an dieser Stelle noch einmal gesagt werden: Ihr vorübergehender Verlust ist nicht nur leicht verschmerzbar, sondern auch zwingend notwendig. Über die Gründe ist in dieser Kolumne mehrfach gesprochen worden, es sind, noch einmal knapp zusammengefasst, vor allem deren vier:

Die Krisen der Freien Demokraten
Retter Brüderle?Als starker Mann in der Partei gilt derzeit Fraktionschef Rainer Brüderle (hier mit dem FDP-Vorsitzenden Philipp Rösler am 17.04.2013 in Berlin während eines Empfangs zum Geburtstag von Dirk Niebel). Die Aufschrei-Affäre um sein angeblich sexistisches Verhalten gegenüber einer Journalistin brachte ihn zwar zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Bedrängnis. Aber peinlich war die Indiskretion für den Spitzenkandidaten in jedem Fall. Zumal sie wohl auch die Erinnerung an seinen alten Ruf als „Weinköniginnenküsser“ beförderte. Brüderle war als rheinland-pfälzischer Wirtschaftsminister auch für den Weinbau zuständig. Und er galt seinerzeit nicht gerade als politisches Schwergewicht. Quelle: dpa
Der Riesenerfolg 2009 - und der steile Absturz danachDer damalige FDP-Bundesvorsitzende Guido Westerwelle, rechts, und der Ehrenvorsitzende Hans-Dietrich Genscher, links, am 3. September 2009 beim Auftakt des bundesweiten Wahlkampfes. Es war das beste Bundestagswahlergebnis aller Zeiten, das die FDP feiern konnte: 14,6 Prozent. Fünf Minister konnte sie im Koalitionsvertrag mit Angela Merkel durchsetzen. Doch schnell stürzte die FDP in den Umfragen auf Minus-Rekorde. Die Kritik an Parteichef Guido Westerwelle spitzte sich nach schwachen Landtagswahlergebnissen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zu. Aber auch der neue Parteichef Philipp Rösler steht seither unter medialer Dauerkritik. Auch innerhalb der Partei halten ihn viele für  führungsschwach und wenig überzeugend. Quelle: AP
Die PlagiatorinDie einst von Westerwelle protegierte EU-Parlamentarierin Silvana Koch-Mehrin stürzte im Mai 2011, über ihre abgeschriebene Doktorarbeit. Schon vorher hatte sich Koch-Mehrin in Talkshows durch offensichtliche Inkompetenz und in Brüssel durch Abwesenheit bei Sitzungen diskreditiert. Hier ist sie am 16. Mai 2009 vor ihrem Wahlplakat auf dem FDP Bundesparteitag in Hannover zu sehen. Der Doktor-Titel fehlte auf keinem Plakat. Quelle: AP
Der PlagiatorAuch EU-Parlamentarier Jorgo Chatzimarkakis fiel vor allem durch häufige Talkshow-Auftritte (hier bei "Anne Will") und geschwätzige Wortmeldungen auf. Unter anderem schlug er vor, nicht mehr von „Griechenland“ zu sprechen sondern von „Hellas“, um das Image des Landes zu heben. Sein eigenes Image leidet seit Juli 2011 unter dem Entzug des Doktortitels aufgrund der zum größten Teil abgeschriebenen Doktorarbeit.    Quelle: dapd
Möllemann stürzt abJürgen Möllemann war die wohl kontroverseste Persönlichkeit der bisherigen FDP-Geschichte. Der Fallschirmjäger-Oberleutnant. Nach der „Briefbogen-Affäre“ und seinem Rücktritt als Bundeswirtschaftsminister 1993 gelang ihm als Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen 2000 ein erstaunlicher Wahlerfolg. Möllemann galt als Kopf hinter der Strategie 18. 2002 eskalierte dann ein Konflikt um seine Unterstützung für einen palästinensischen Aktivisten, der Israel einen „Vernichtungskrieg“ vorwarf. Möllemann wurde vom Zentralrat der Juden scharf angegriffen. Hildegard Hamm-Brücher trat seinetwegen aus der FDP aus.  Nach einem Flugblatt mit erneuten Vorwürfen gegen die israelische Regierung drehte sich die Stimmung innerhalb der FDP zuungunsten Möllemanns, der aus der Partei austrat. Am 5. Juni 2003 starb er bei einem Fallschirmabsturz, vermutlich wählte er den Freitod. Quelle: dpa
Projekt 18So nannte die FDP ihre Wahlkampfstrategie zur Bundestagswahl 2002, beschlossen im Mai 2001 auf dem Düsseldorfer Bundesparteitag unter wesentlicher Mitwirkung von Jürgen Möllemann (Bild). Ziel: „mit neuen Formen der Kommunikation und Darstellung … neue Wählerschichten“ für die Partei erschließen und die FDP als eigenständige und unabhängige politische Kraft außerhalb eines vorgegebenen Lagers darstellen. Der Name bezog sich auf das Ziel, den Anteil an den Wählerstimmen von 6 auf 18 Prozent zu verdreifachen. Viele empfanden die Kampagne als Inbegriff einer plakativen Spaß-Politik.
Guido im ContainerEine Aura des Unernsthaftigkeit verpasste sich die FDP-Führung spätestens zu Anfang des neuen Jahrtausends. Als Sinnbild der damals neuen politischen Spaßkultur wurde vor allem der Besuch des damaligen Generalsekretärs Westerwelle im Big-Brother-Container 2000 gesehen. Als Mitbringsel hatte er Alkoholika und Zigaretten dabei. Quelle: dpa

Erstens: Die FDP ist keine Partei des Wirtschaftsliberalismus mehr, sondern des Business-Class-Liberalismus. Ursprünglich meinte Liberalismus Wettbewerb innerhalb eines staatlichen Ordnungsrahmens; heute meint er Protektion von globalen Konzernen, Steuerdumping , Steuerflucht – gegen den Nationalstaat. Mit der doppelten Folge, dass der Wettbewerb zugunsten der Markmächtigen verzerrt ist (Starbucks zahlt keine Steuern, das benachbarte Stadtcafé schon) – und dass autoritäre Staatskapitalismen wie etwa Singapur von der „liberalen“ Business-Class dazu beglückwünscht werden, auf völlig idiotischen „Indizes für wirtschaftliche Freiheit“ vor Deutschland zu rangieren. Wirklich Liberale wie Ralf Dahrendorf und Karl-Hermann Flach würden sich für diesen Business-Class-Liberalismus schämen. Für sie war Freiheit unteilbar, war staatsbürgerliche Freiheit nicht von wirtschaftlicher Freiheit zu trennen.

Zweitens: Die FDP wird ihrem Lieblingsgegner Staat nie verzeihen, dass er einen restlos liberalisierten Wirtschaftszweig (den Finanzsektor) vor dem Untergang gerettet und der Welt den parareligiösen Glauben geraubt hat, der Markt richte ALLES zu unserem Besten ein. Die Wahrheit ist: Keine noch so übel staatswirtschaftende Sozialdemokratie hat unsere Volkswirtschaften je in so kurzer Zeit so dramatisch in die Verschuldungsfalle getrieben wie eine kleine Clique deregulierter Bankster. Dass Teile der FDP sich nach der Metamorphose der Banken- zur Eurokrise wieder auf ihre ordnungspolitischen Grundsätze besannen, hat der Partei sehr zu Recht nicht geholfen: Ihre Invektiven gegen schlecht wirtschaftende Euro-Länder (und deutsche Politiker in Aufsichtsräten deutscher Banken) sind selten dämlich, solange nicht mindestens genauso laut gesagt wird: Die Politik schützt nicht nur sich selbst, sondern auch und vor allem die Gläubiger, die Banken, ihre Kunden, ihre Aktionäre – den internationalen Geldadel. Dass die FDP heute als ordnungspolitischer Heiler einer Krankheit auftritt, die sie als Deregulierungspartei in die Welt gebracht hat, ist und bleibt daher unglaubwürdig: Es geht in den nächsten Jahren nicht in erster Linie darum, die Freiheit der Finanzmärkte zu erhalten, sondern die Freiheit des Staates zu erhalten, die Finanzmärkte vor sich selbst (und damit uns Steuerzahler) zu schützen.

Deutschland rückt nicht nach links

Reaktionen aus der Wirtschaft auf das Wahlergebnis
Wolfgang Grupp, alleiniger Inhaber und geschäftsführender Gesellschafter der Textilfirma Trigema Quelle: dpa
Otto Kentzler, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks ZDH: "Auf die kommende Bundesregierung warten große Herausforderungen: Die Bewältigung des demografischen Wandels; die Sicherung der wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen; die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands; entschlossenes Handeln hinsichtlich der energiepolitischen Baustellen sowie eine engagierte Bildungspolitik zur Sicherung des Fachkräftebedarfs. Mit Tatkraft muss die Zukunftsfähigkeit Deutschlands abgesichert und weiterentwickelt werden. In diesem Sinne setzen wir auf eine zügige Regierungsbildung." Quelle: Presse
Patrick Engels, Geschäftsführender Gesellschafter der Pöschl Tobacco Group "Die Wahlberechtigten haben sich eindeutig gegen eine Politik der Steuererhöhungen und der Verbote bzw. der Einmischung vermeintlicher Gutmenschen in die Lebensgestaltung mündiger Bürger ausgesprochen. Nun geht es darum, diese Wünsche des Souveräns auf sowohl nationaler wie internationaler Ebene - und hier insbesondere in Brüssel - umzusetzen."
Stephan Koziol, Geschäftsführer Koziol Designprodukte:"Mein Resümee dieser Wahl: Die FDP hat ihren Markenkern komplett verloren, die Grünen haben ihren stark verschliffen. Die Kommunikation des Kundennutzens war bei beiden Parteien im Vorfeld katastrophal. Den restlichen Parteien ist es deutlich besser gelungen, ihre Botschaften an die Wähler zu bringen. Mein Wunsch an die künftige Regierung ist, dass sie so wenig neue Gesetze wie nur irgend möglich erlässt und das Erneuerbare-Energien-Gesetz schnellstens mit Augenmaß und gesundem Menschenverstand für Deutschland erträglich korrigiert." Quelle: Presse
Friedrich von Metzler, Privatbankier Quelle: dpa
Verband der deutschen Unternehmerinnen (VdU), Präsidentin Stephanie Bschorr „Von der neuen Bundesregierung unter CDU-Führung erwarte ich vor allem einen deutlichen Schub für mehr Präsenz von Frauen in den Führungsfunktionen der deutschen Wirtschaft. Die Mitglieder des VdU fordern von der neuen Regierung vor allem eine starke Berücksichtigung der Interessen kleiner und mittelständischer Unternehmen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass mit dem Ausscheiden der FDP eine wirtschaftsnahe Partei im Deutschen Bundestag nicht mehr vertreten sein wird." Quelle: Presse
Dieter Kempf, Präsident Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom)„Wir gratulieren Union und SPD zu ihren Wahlerfolgen. Aus Perspektive der Hightech-Wirtschaft muss möglichst schnell eine handlungsfähige Regierung gebildet werden, auch damit in der digitalen Wirtschaftspolitik die notwendigen Akzente gesetzt werden können. Hier sehen wir in erster Linie die beiden großen Volksparteien gefordert. Netzpolitik gehört mit ins Zentrum des nächsten Regierungsprogramms. Sicherheit und Datenschutz, der Aufbau intelligenter Netze u.a. in den Bereichen Energie, Verkehr und Gesundheit, die Modernisierung unseres Bildungswesens oder die Förderung von Start-ups sind Aufgaben, die schnellstmöglich und mit Nachdruck angegangen werden müssen. Netzpolitik muss sowohl im Parlament und als auch auf Seiten der Bundesregierung fest verankert werden. Dazu zählt an erster Stelle die Einrichtung eines ständigen Bundestagsausschusses ‚Internet und digitale Gesellschaft‘.“ Quelle: Presse

Drittens: Keine Partei hat in den vergangenen Jahren den Begriff der „Freiheit“ so sehr ausgedünnt, so sehr verflacht, so sehr ausgehöhlt wie die Liberalen. Er ist nicht mehr negativ wie früher indem er die "Freiheit von" etwas (Hunger, Unterdrückung etc.) einer "Freiheit zu" etwas (Mitbestimmung, Selbstverwirklichung) logisch vorzieht, sondern er beschreibt heute – dürrer denn je – eine Freiheit, sich jeder Politik zu enthalten. Damit verfehlt ausgerechnet sie den ursprünglichen, bürgerlichen Sinn von Freiheit mehr als alle anderen Parteien – nämlich den Sinn, gemeinsam an der Gestaltung des Staates mitzuwirken statt diese Gestaltung einem Einzelnen, dem wohlmeinenden Monarchen, zu überlassen. Stattdessen perhorresziert die FDP den Staat zum Kollektiv-Leviathan, der sich ausschließlich gegen seine Bürger richtet. Alles FDP-Regieren ist daher strukturell schizophren, zynisch, defensiv, bloße Abwehr von Politik - eine "Politik", die nur noch dazu da ist, um eine Wirklichkeit, so wie sie ist, sich möglichst ungestört vollziehen zu lassen. Eine solche "Politik" gibt sich nicht die Blöße des gestalten wollenden Arguments, sondern versteckt sich im gleißenden Licht der pseudoliberalen Parole, mit der Abwesenheit jeder „Politik“ sei dem Land am besten gedient. Es ist eine zutiefst antiaufklärerische Politik, eine Politik, die stets die Beste aller Welten vorfindet, um jeden Eingriffsversuch als Störung des Gleichgewichts zu denunzieren: Leibniz meets Smith - das ist der Kern der FDP-Freiheit. Dass eine Freiheit heute aktiv ergriffen und qualitativ aufgeladen werden muss, davon weiß die negative FDP-Freiheit nichts. Ihre Freiheit besteht darin, das Menschenrecht auf Billigschnitzel und Tempo 220 zu verteidigen. Ihre Freiheit fördert die nachträgliche Legalisierung von Steuerbetrug (kein Ankauf von Steuer-CDs) – und denunziert die Freiheitsbeförderung von Frauen im Berufsleben (Quote) als unziemliche Einmischung des Staates.

In Arbeit
Bitte entschuldigen Sie. Dieses Element gibt es nicht mehr.

Viertens: Die FDP hat das Land in den vergangenen Jahren so scheinliberal schlechtgeredet wie SPD und Grüne es scheinlinks schlechtgeredet haben. Und natürlich fallen ihre Anhänger, kaum ist die Wahl verloren, sogleich in den alten Plattitüdenliberalismus zurück: Das Land steht mit einer „sozialdemokratisierten CDU“ am Abgrund und wird von der „staatsgläubigen SPD“ in Richtung Apokalypse geritten, schlimm, schlimm, aber was sollen wir - die einzigen verbliebenen Freiheitskämpfer, jetzt auch noch APO - bloß machen; die Menschen wollen sich halt bevormunden lassen, in Sicherheit wiegen, dem „Mutti-Staat“ überlassen anstatt mit Flexibilität und Effizienz zu überzeugen, mit Mut und Kraft und Selbständigkeit… blabla-blabla – so oft wurden diesen Phrasen von Westerwelle, Rösler, Bahr eingespeichelt, abgelutscht und wiedergekäut, bis es zuletzt wirklich nur noch 4,8 Prozent der Wähler ertragen konnten. Muss man wirklich noch darauf hinweisen, dass die FDP eine „linke Wirklichkeit“ konstruiert, die es gar nicht (mehr) gibt? Hallo, liebe FDP-Freunde, aufwachen! Wir leben nicht mehr in Gewerkschaftszonen und Besitzstandswahrungsbezirken! Land und Leute sind in diesem Jahrtausend nicht nach links gerückt, sondern im Gegenteil: Land und Leute haben sich längst geschmeidig gemacht! Die Renten stagnieren, die Eigenvorsorge nimmt zu, Urlaubstage werden gestrichen, dreizehnte Monatsgehälter gekürzt, die Geschäfte haben rund um die Uhr geöffnet und selbstverständlich wird auch samstags gearbeitet. Der Arbeitsmarkt ist bunt wie nie, es gibt variable Zeiten und atmende Firmen, Betriebsvereinbarungen und Öffnungsklauseln, halbe Stellen, ganze Stellen, Gutverdiener, Schlechtverdiener, kurz: es gibt nicht mehr die eine, tariflich fixierte Arbeits-Wirklichkeit, sondern unendliche viele Arbeitswirklichkeiten. Vor allem aber: Die meisten Menschen strengen sich an und gehen jeden Morgen schaffen, sie zahlen brav Steuern und murren nicht einmal bei stagnierenden Reallöhnen. Sie alle des Neides verdächtigen, wenn sie die Selbstbereicherung der Management-Eliten beklagen, ihnen allen wieder und wieder die „Leistung muss wich wieder lohnen“-Schallplatte vorspielen - Entschuldigung aber, geht‘s noch?

Genug. Wir halten fest: Deutschland rückt nicht nach links, sondern ist seit den 1980er Jahren viel liberaler geworden, viel aufgeschlossener und wettbewerblicher, viel weniger staatsgläubig und noch viel mehr weniger gewerkschaftsorientiert. Und das ist auch gut so.

Womit wir bei der SPD wären, die immer noch nicht recht weiß, ob sie das neue Deutschland - das sich der Reformbereitschaft ihres ehemaligen Vorsitzenden und Kanzlers Gerhard Schröder verdankt - gut finden soll. Dass die SPD sich in weiten Teilen noch immer ihres grandiosen Erfolges schämt, das Land durch Sozialreformen einigermaßen krisenfest gemacht zu haben und dass die SPD damit Bundeskanzlerin Angela Merkel auch noch die Chance einräumt, diesen Erfolg frech für sich zu reklamieren – es ist und bleibt ein Rätsel. Dass die SPD es darüber hinaus nicht geschafft hat, Union und FDP davon abzuhalten, notwendige Korrekturen als „Linksruck“ zu denunzieren, ist ein weiteres. Denn die Öffnung des Niedriglohnsektors und die Einführung der Zeitarbeit vor zehn Jahren waren genau so dringend nötig wie heute ein gesetzliches Vorgehen gegen Lohndumping und den Missbrauch von Werkverträgen nötig ist.

SPD suhlt sich im politischen Versagen

Der eigentliche Grund aber, warum die deutsche Sozialdemokratie nur bei 25,7 Prozent landet (und die Union bei 41,5 Prozent), ist ein anderer: Die SPD versteht sich selbst nicht mehr als Volks-, sondern als Klientelpartei, ja: Sie ist geradezu definiert als Partei, die immer neue Betreuungsgruppen erschließt, um sie zum Zielgebiet ihrer politischen Dauerfürsorge erklären zu können. Konkret: Die SPD spricht nicht die überragende Mehrheit der Deutschen an, die sich über saubere, gut bezahlte, immer noch recht sichere Jobs freuen, sondern sie erfindet eine Republik der Niedriglöhner, Teilzeitjobber, Leiharbeiter und Dauerpraktikanten, um diese Republik sozial-, programm- und ausgabenpolitisch zu kolonialisieren. Kurzum, die SPD leidet, ganz wie die FDP, an einem Wahrnehmungsproblem, nur unter anderen, linken Vorzeichen: Sie prekarisiert Deutschland als Ganzes statt im Einzelnen Gerechtigkeitsdefizite zu benennen. Sie schürt steuerpolitische Ressentiments gegen die Erfolg-Reichen, anstatt Aufstiegschancen für alle einzuklagen. Sie ruft den sozialpolitischen Notstand aus, anstatt sachlich darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit zur Eigenvorsorge an materielle Voraussetzungen gebunden ist.

Leider haben einige Sozialdemokraten die Nachricht vom 22. September noch immer nicht wirklich begriffen. Sicher, keiner wagt, RotRotGrün auch nur zu denken, immerhin. Und doch gibt es ein paar Verblendete, die durchaus der Auffassung sind, die Deutschen hätten eine linke Mehrheit in den Bundestag gewählt. Tatsächlich ist, wenn man zu denkfaul ist, das altblöde Lagerdenken hinter sich zu lassen, natürlich das Gegenteil der Fall: Die Deutschen haben eine rechte Mehrheit versehentlich aus dem Bundestag gewählt: Mehr als vier Millionen Wähler (9,5 Stimmenanteile für FDP und AfD) sind in den nächsten vier Jahren nicht repräsentiert. Doch die eigentliche Nachricht ist eine ganze andere, nämlich, dass Angela Merkels CDU die einzige Partei ist, die die politischen Lager überlagert: Während die einen (FDP) nominell für „Wachstum, Wohlstand, Wirtschaft“ stehen und die anderen (SPD, Linke, Grüne) für „soziale Gerechtigkeit“, steht allein die Union für die Verbindung beider Prinzipien: für Unternehmertum und Fürsorge, Risiko und Sicherheit, Wachstum und Umweltschutz –für die arbeitende Mitte, für die „Soziale Marktwirtschaft“.

Der Frust darüber, die Mitte verloren zu haben, muss unendlich groß sein in den Reihen der SPD (und auch der Grünen). Gerhard Schröder und Joschka Fischer hatten sie mal als „neue Mitte“ gewonnen – jetzt ist sie weiter entfernt von SPD und Grünen denn je. Als linke Politik bringt Rot-Grün gerade mal 34,3 Prozent auf die Waage, das ist Ergebnis dieser Wahlen, als neubürgerliche Politik waren es mal 47,6 Prozent (1998) und 47,1 Prozent (2002).

Peinlich, wenn jetzt ausgerechnet SPD-Politiker sich in ihrem politischen Versagen suhlen und der Union gegenüber die Sittensau rauslassen, bloß weil sie fürchten, die Große Koalition könne der SPD schaden – als hätte sich die SPD nicht ganz allein in ihre desolate Lage hineinmanövriert. Der Sprecher des „konservativen“ Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, bollert allen Ernstes, die SPD verlange von der Union „fifty-fifty“, und das nicht nur inhaltlich, sondern auch personell, versteht sich: fifty-fifty bei Steuern, Mindestlohn, Betreuungsgeld und Quote also – und fifty-fifty bei der Vergabe der Ministerposten. Nun gut, mag man denken, als Koalitionspokerei mag das hingehen. Das Problem ist nur, dass die SPD es auch jenseits des Koalitionspokers ernst damit meint. Dass sie fast sieben Millionen(!) Stimmen weniger eingesammelt hat als die Union, ficht sie nicht an. Dass das Politikangebot von Angela Merkel gewählt wurde und nicht das von Peer Steinbrück, offenbar auch nicht. Aber Gott, soll die SPD noch ein paar Tage bocken, sie wird sich schon erbarmen. Aber vielleicht sollte die Union, statt immer neue Signale der Gesprächsbereitschaft zu senden, mal langsam die Folterwerkzeuge auf den Tisch legen: Neuwahlen – mit der fast sicheren Aussicht, liebe SPD, dass die FDP den Einzug dann locker schafft.

Aber wie auch immer: Mit 65 Prozent Union und 35 Prozent SPD wäre dem Land nicht schlecht gedient – und eine Einigung jederzeit möglich: Einkommensteuer moderat anheben (45 Prozent) und gleichzeitig die kalte Progression abschaffen. Kapitalertragssteuer dem Individualsteuersatz anpassen, dafür keine Vermögenssteuer. Kein flächendeckender Mindestlohn sofort, sondern ein regionale gestaffelter Mindestlohn, in Stufen, nicht politisch festgelegt, sondern nach britischem Vorbild von einer Kommission.

Eine zugleich wirtschafts- und umweltpolitisch ehrgeizige Energiepolitik, die weder Konzerne schädigt noch Windmüller päppelt. Die Förderung von Wohneigentum statt Mietpreis- und Investorenbremsen – das alles könnten nur einige der Elemente sein für eine schwarz-rote Wirtschaftspolitik, die Deutschland nicht etwa in den linken Abgrund stürzt, sondern festigt und stabilisiert – so wie sich Deutschland insgesamt in den vergangenen 20 Jahren, wirtschaftspolitisch gefestigt und stabilisiert hat. Und wenn Schwarz-Rot an der ein oder anderen Stelle tatsächlich einmal übers Ziel hinausschießt und sich zum Sozialingenieur aufschwingt? Nun, dann wird die APO-FDP an dieser Regierung ihre stumpfgewordenen, liberalen Argumente schärfen können. So leicht wie beim nächsten Urnengang kommt sie nie wieder in den Bundestag. Oder anders gesagt: Wird den Liberalismus will, muss jetzt Schwarz-Rot wählen.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%