Worin unterscheidet sich der typische Vertreter des liberaldoofen "Mainstream" vom typischen Vertreter des sozialdoofen "Mainstream"? Geradezu exemplarisch lässt sich diese Frage beantworten, wenn man den beiden "Mainstream"-Kombattanten ein paar Tabellen und Grafiken in die Hand drückt, in denen es um Steuern und Abgaben und um die Verteilung von Einkommen und Vermögen geht. Die sozialdoofe Fraktion klagt an: In den Händen des reichsten Zehntels der Bevölkerung konzentriert sich 60 Prozent des Vermögens! Die liberaldoofe Fraktion kontert: Das reichste Zehntel der Bevölkerung spült Bund, Ländern und Kommunen 60 Prozent aller Steuereinnahmen in die Kassen! Recht haben beide. Aber eben jeweils nur halb. Weshalb die Sozialdoofen aus ihrer Hälfte der Wahrheit den ganz falschen Schluss ziehen, dass es nur mehr Umverteilung, Reichensteuern und Vermögensabgaben braucht, um dem Missstand skandalöser Ungleichheit endlich ein Ende zu bereiten. Und weshalb auch die Liberaldoofen aus ihrer Hälfte der Wahrheit den ganz falschen Schluss ziehen, dass es sich beim Staat um einen Banditen handle, der sich die Erträge seiner gesellschaftlichen Leistungsträger zur fetten Beute macht und seine Finanzelite solange schröpft, bis sie sich zuletzt in Steuerparadiese flüchtet.
An der intellektuellen Armseligkeit solcher Diskussionen können Fakten nichts ändern. Wann immer die Bundesregierung zum Beispiel ihren "Armuts- und Reichtumsbericht" vorlegt, nehmen die "Mainstream"-Kombattanten all ihre Gesinnungskraft zusammen und beugen sich mit großer Vorurteilsfreude über die frischen Zahlen. Das soziale Lager sieht dann die Mittelschicht schrumpfen und von Abstiegsängsten bedroht, allerorts Menschen unter prekären Arbeitsverhältnissen und unter der kapitalistischen Maximierungslogik leiden. Das liberale Lager wiederum lacht höhnisch über die wandernde Armutsgrenze, die sich mit jedem Wirtschaftswachstum nach oben verschiebt und spielt die relative Not der Hartz-Armen in Deutschland gegen die existenzielle Not der Hunger-Armen in Syrien aus. Anders gesagt: Die einen skandalisieren, die anderen aber marginalisieren das Problem der Ungleichheit, um es ihren jeweiligen politischen Vorlieben anzuverwandeln. Nur lernen will keiner was aus den Daten. Lieber baden alle weiter in ihren lauwarmen Vorurteilen.
Jetzt hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) neue Zahlen über die Verteilung von Vermögen in Deutschland vorgelegt. Danach besitzt das reichste Zehntel der Bevölkerung (ab 17 Jahren) nach Abzug aller Schulden mindestens 217.000 Euro, das reichste ein Prozent mindestens 817.000 Euro. Auf der anderen Seite des Spektrums verfügt jeder fünfte Erwachsene in Deutschland über kein persönliches Vermögen; bei jedem Vierzehnten sind die Verbindlichkeiten sogar höher als der Besitz. Die Unterschiede zwischen Westdeutschland (Durchschnittsvermögen: 94.000 Euro) und Ostdeutschland (41.000 Euro) sowie zwischen Männern (97.000 Euro) und Frauen (70.000) Euro sind signifikant, aber das soll uns hier und heute nicht interessieren. Denn die fraglos irritierendste Nachricht der DIW-Analyse ist: Nicht etwa in Griechenland mit seinen superreichen Reedern und krisengeschüttelten Einzelhändlern, Lehrern und Arbeitslosen ist die Ungleichheit der Vermögen besonders groß, sondern in Deutschland, ja: In keinem anderen Euro-Land ist der Reichtum so ungleich verteilt wie hierzulande.
Gemessen und veranschaulicht wird die Ungleichheit (von Einkommen und Vermögen) mit dem so genannten Gini-Koeffizienten. Er wird unabhängig von der jeweiligen Einkommen- und Vermögenshöhe ermittelt, das heißt: Die Gleichheit der Einkommen und Vermögen kann in Usbekistan größer sein als in Deutschland, auch wenn es sich bei Usbekistan um das absolut ärmere Land handelt. Der Gini-Koeefizient läge in einem ideal-kommunistischen Land bei 0, also dann, wenn alle verglichenen Personen genau die gleichen Einkommen und Vermögen hätten. Und er läge in einem radikal-plutokratischen Land bei 1, also wenn einer einzigen Person alles gehören und alle anderen Personen nichts einnehmen und besitzen würden.
Betrachtet man nun die Verteilung der Einkommen in Deutschland, so stellt man Folgendes fest: Nach einem im Vergleich zu anderen OECD-Ländern überdurchschnittlichen Anstieg der Ungleichheit in den 1990er Jahren liegt der Gini-Koeffizient seit einigen Jahren recht stabil bei 0,28 - ein vergleichsweise niedriger Wert: Deutschland gehört, was die Verteilung der Einkommen betrifft, immer noch zu den egalitärsten Ländern weltweit. Sieht man sich nun die Verteilung der Vermögen an, ergibt sich hingegen ein vollkommen anderes Bild: Hier liegt der Gini-Koeffizient in Deutschland bei 0,78 und damit deutlich über den Werten für Frankreich (0,68), Italien (0,61) oder die Slowakei (0,45): Die Konzentration von Eigentum in der Hand Weniger ist in keinem Euro-Land so ausgeprägt wie in Deutschland. Und das ist ein Problem.