Tauchsieder

Deutschlands Ungleichheit ist ein Armutszeugnis

Peinlich, peinlich: Ausgerechnet Deutschland, das Mutterland der "Sozialen Marktwirtschaft", ist Europameister der Ungleichheit. In keinem anderen Euro-Land klaffen die Vermögen der Reichen und Armen weiter auseinander. Was tun?

  • Teilen per:
  • Teilen per:
In welchen Branchen Mindestlöhne bereits fällig sind
FleischindustrieDie Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) fordert einen bundesweiten Mindestlohn von 8,50 Euro für die deutsche Fleischindustrie. In der Branche arbeiten rund 80.000 Arbeitnehmer. Die Bezahlung der Mitarbeiter in der Branche ist bisher über einzelne Haus- oder regionale Tarife geregelt, die nur rund 27. 000 Beschäftigte erfasst. Nach Gewerkschaftsangaben wiesen die Arbeitgeber die Forderung zurück. Dies sei zwar für den Westen möglich, kurzfristig jedoch nicht für die ostdeutschen Bundesländer. Nach mehreren Stunden vertagten die Tarifparteien die Gespräche auf den 17. Dezember. Die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland ist auch Ziel der SPD in ihren Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU. Quelle: dpa
Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) warnt vor einem flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde. Die Politik solle mit einer niedrigeren Lohnuntergrenze - beispielsweise bei sieben Euro - beginnen und sich langsam steigern. Insgesamt würden bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro 17 Prozent der Arbeitnehmer einen höheren Stundenlohn erhalten - die Lohnsumme würde jedoch nur um drei Prozent steigen, so das DIW. Schließlich gebe es viele Niedriglöhner, deren Partner gut verdienen. Das Plus werde dann von der Steuer gefressen. Auch Arbeitslose, die sich etwas dazu verdienen, hätten nichts vom höheren Lohn, da dieser mit den Sozialleistungen verrechnet werde. Der Mindestlohn von 8,50 Euro hätte dagegen zur Konsequenz, dass mehr Unternehmen auf Minijobs als auf Festangestellte setzen und letztlich die Preise bei den sogenannten konsumnahen Dienstleistungen steigen. Frisöre, Kleinst- und Gastronomiebetriebe würden die höheren Lohnkosten an die Kunden weitergeben. Quelle: dpa
In der Friseurbranche wird es ab August 2015 einen bundesweit einheitlichen Mindestlohn von 8,50 Euro geben. Dem Tarifvertrag wollen laut Angaben von Landesverbänden und der Gewerkschaft Verdi auch mehrere Friseurketten betreten. Bis Ende Juni soll der Vertrag von allen Seiten unterschrieben sein. Der flächendeckende Mindestlohn werde von August 2013 an in drei Stufen eingeführt. Der Osten startet mit 6,50 Euro Stundenlohn, der Westen mit 7,50 Euro. Diese verschiedenen Stufen waren nötig, weil bislang regional sehr unterschiedliche Tarifverträge existierten. In den neuen Bundesländern gab es zum Teil Ecklöhne von nur knapp mehr als drei Euro pro Stunde, wie Verdi-Verhandlungsführerin Ute Kittel sagte. Quelle: dpa
In welchen Branchen Mindestlöhne bereits fällig sindDie Zeitarbeit führt als elfte Branche in Deutschland ab dem 1. Januar 2012 Mindestlöhne ein. Festgelegt ist, dass dann bis zum 31.Oktober 7,89 Euro in Westdeutschland und 7,01 Euro in Ostdeutschland gezahlt werden müssen. Zwischen dem 1. November 2012 und dem 31. Oktober 2013 wird die Lohnuntergrenze dann auf 8,19 Euro in Westdeutschland und 7,50 Euro in Ostdeutschland angehoben. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung Quelle: dpa
Im Wach- und Sicherheitsgewerbe gilt seit dem 1. Juni 2011 ein Mindestlohn von 6,53 Euro. Anders als in den meisten Branchen ist der Tarif hier deutschlandweit einheitlich. Zum 1. Januar 2013 sollen die Stundenlöhne steigen, die Beschäftigten können dann mit einem Tarif zwischen 7,50 Euro und 8,90 Euro rechnen. Foto: dpa  Quelle: Hans-Böckler-Stiftung
Wäschereien müssen ihren Beschäftigten im Osten 6,75 Euro die Stunde zahlen. Im Westen liegt der Mindestlohn über einen Euro höher, hier bekommen Angestellte mindestens 7,80 Euro. Quelle: dpa
Reinigungskräfte bekommen für den Innendienst einen Stundenlohn von sieben Euro (Ostdeutschland) und 8,55 Euro (Westdeutschland). Genau 2,78 Euro mehr pro Stunde… Foto: dpa

Worin unterscheidet sich der typische Vertreter des liberaldoofen "Mainstream" vom typischen Vertreter des sozialdoofen "Mainstream"? Geradezu exemplarisch lässt sich diese Frage beantworten, wenn man den beiden "Mainstream"-Kombattanten ein paar Tabellen und Grafiken in die Hand drückt, in denen es um Steuern und Abgaben und um die Verteilung von Einkommen und Vermögen geht. Die sozialdoofe Fraktion klagt an: In den Händen des reichsten Zehntels der Bevölkerung konzentriert sich 60 Prozent des Vermögens! Die liberaldoofe Fraktion kontert: Das reichste Zehntel der Bevölkerung spült Bund, Ländern und Kommunen 60 Prozent aller Steuereinnahmen in die Kassen! Recht haben beide. Aber eben jeweils nur halb. Weshalb die Sozialdoofen aus ihrer Hälfte der Wahrheit den ganz falschen Schluss ziehen, dass es nur mehr Umverteilung, Reichensteuern und Vermögensabgaben braucht, um dem Missstand skandalöser Ungleichheit endlich ein Ende zu bereiten. Und weshalb auch die Liberaldoofen aus ihrer Hälfte der Wahrheit den ganz falschen Schluss ziehen, dass es sich beim Staat um einen Banditen handle, der sich die Erträge seiner gesellschaftlichen Leistungsträger zur fetten Beute macht und seine Finanzelite solange schröpft, bis sie sich zuletzt in Steuerparadiese flüchtet.

 

An der intellektuellen Armseligkeit solcher Diskussionen können Fakten nichts ändern. Wann immer die Bundesregierung zum Beispiel ihren "Armuts- und Reichtumsbericht" vorlegt, nehmen die "Mainstream"-Kombattanten all ihre Gesinnungskraft zusammen und beugen sich mit großer Vorurteilsfreude über die frischen Zahlen. Das soziale Lager sieht dann die Mittelschicht schrumpfen und von Abstiegsängsten bedroht, allerorts Menschen unter prekären Arbeitsverhältnissen und unter der kapitalistischen Maximierungslogik leiden. Das liberale Lager wiederum lacht höhnisch über die wandernde Armutsgrenze, die sich mit jedem Wirtschaftswachstum nach oben verschiebt und spielt die relative Not der Hartz-Armen in Deutschland gegen die existenzielle Not der Hunger-Armen in Syrien aus. Anders gesagt: Die einen skandalisieren, die anderen aber marginalisieren das Problem der Ungleichheit, um es ihren jeweiligen politischen Vorlieben anzuverwandeln. Nur lernen will keiner was aus den Daten. Lieber baden alle weiter in ihren lauwarmen Vorurteilen. 

 

Jetzt hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) neue Zahlen über die Verteilung von Vermögen in Deutschland vorgelegt. Danach besitzt das reichste Zehntel der Bevölkerung (ab 17 Jahren) nach Abzug aller Schulden mindestens 217.000 Euro, das reichste ein Prozent mindestens 817.000 Euro. Auf der anderen Seite des Spektrums verfügt jeder fünfte Erwachsene in Deutschland über kein persönliches Vermögen; bei jedem Vierzehnten sind die Verbindlichkeiten sogar höher als der Besitz. Die Unterschiede zwischen Westdeutschland (Durchschnittsvermögen: 94.000 Euro) und Ostdeutschland (41.000 Euro) sowie zwischen Männern (97.000 Euro) und Frauen (70.000) Euro sind signifikant, aber das soll uns hier und heute nicht interessieren. Denn die fraglos irritierendste Nachricht der DIW-Analyse ist: Nicht etwa in Griechenland mit seinen superreichen Reedern und krisengeschüttelten Einzelhändlern, Lehrern und Arbeitslosen ist die Ungleichheit der Vermögen besonders groß, sondern in Deutschland, ja: In keinem anderen Euro-Land ist der Reichtum so ungleich verteilt wie hierzulande.

Vermögensverteilung in Deutschland

Gemessen und veranschaulicht wird die Ungleichheit (von Einkommen und Vermögen) mit dem so genannten Gini-Koeffizienten. Er wird unabhängig von der jeweiligen Einkommen- und Vermögenshöhe ermittelt, das heißt: Die Gleichheit der Einkommen und Vermögen kann in Usbekistan größer sein als in Deutschland, auch wenn es sich bei Usbekistan um das absolut ärmere Land handelt. Der Gini-Koeefizient läge in einem ideal-kommunistischen Land bei 0, also dann, wenn alle verglichenen Personen genau die gleichen Einkommen und Vermögen hätten. Und er läge in einem radikal-plutokratischen Land bei 1, also wenn einer einzigen Person alles gehören und alle anderen Personen nichts einnehmen und besitzen würden.

 

Betrachtet man nun die Verteilung der Einkommen in Deutschland, so stellt man Folgendes fest: Nach einem im Vergleich zu anderen OECD-Ländern überdurchschnittlichen Anstieg der Ungleichheit in den 1990er Jahren liegt der Gini-Koeffizient seit einigen Jahren recht stabil bei 0,28 - ein vergleichsweise niedriger Wert: Deutschland gehört, was die Verteilung der Einkommen betrifft, immer noch zu den egalitärsten Ländern weltweit. Sieht man sich nun die Verteilung der Vermögen an, ergibt sich hingegen ein vollkommen anderes Bild: Hier liegt der Gini-Koeffizient in Deutschland bei 0,78 und damit deutlich über den Werten für Frankreich (0,68), Italien (0,61) oder die Slowakei (0,45): Die Konzentration von Eigentum in der Hand Weniger ist in keinem Euro-Land so ausgeprägt wie in Deutschland. Und das ist ein Problem.

 

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%