Tauchsieder

Lass! Dich! verführen!

Seite 3/3

Die Grenze zum Bevormundungsstaat

Für Sunstein ist die Sache klar: Unternehmen dürfen Kunden manipulieren, um ihr Interesse zu wecken - warum also sollte der Staat seine Bürger nicht in ihrem Interesse manipulieren dürfen? Eine bestimmte "Architektur" der Debatten, die um Organspenden, das Rauchen, die gesunde Ernährung, die Altersvorsorge oder die Informationspflicht bei Finanzprodukten kreisen, gibt es ohnehin - warum sollte man sie nicht erfolgversprechender gestalten dürfen? Lässt man diese Fragen (und Sunsteins fragwürdigen Antworten) fürs Erste beiseite, gewinnt man mit Sunsteins Raster, wie erwähnt, ein ganz gutes Gefühl dafür, wie weit der "liberale Paternalismus" gehen darf - und wann genau er die Grenze zum Bevormundungs - und Verbotsstaat überschreitet. Sunstein unterscheidet zum Beispiel zwischen hartem und weichem Paternalismus (Strafe und Information), zwischen einem Paternalismus der Ziele und der Mittel (etwa: Verbot von Fleischverzehr vs. Menügestaltung, die vegetarisches Essen exponiert) sowie zwischen materiellen und nicht-materiellen Kosten (Steuern auf Zigaretten und abschreckende Warnbilder auf Zigarettenpackungen) - und rät den Regierungen prinzipiell zu einem weichen Paternalismus der Mittel, der nicht viel kostet und den Menschen alle Wahlfreiheit lässt. 

Sunsteins Theorie hat ihre Schwächen

Aber das ist nur das Grundmuster. So hätte Sunstein auch kein Problem damit, den Verkauf von Riesenbechern mit Cola oder Fanta zu verbieten - ein Verbot, das Michael Bloomberg, der ehemalige Bürgermeister von New York, 2012 durchsetzen wollte. Sunstein argumentiert: Jeder könne weiterhin so viel Cola trinken wie vorher. Man müsse sich bloß zwei Becher statt einen kaufen. Relativ weicher Paternalismus mit klarem Ziel, schlussfolgert Sunstein, mit potenziell guten Ergebnissen bei minimalen Kosten - klare Sache, gute Sache. Es ist höchst vergnüglich, dem Autor und seinen zahlreichen Beispielen zu folgen - und höchst anspruchsvoll, ihn gedanklich zu widerlegen, wenn man von Einzelfall zu Einzelfall anderer Meinung ist.

Bleibt der Ärger über Sunsteins Theorieschwäche und über sein fast schon religiöses Verhältnis zur Verhaltensökonomie. Er unterschätzt dramatisch den Eigenwert des irrationalen Verhaltens, das Recht auf Rausch, Sucht, Spiel und Selbstzerstörung, auf Krankheit, Genussfreude und Weltabgewandtheit und würdigt den dionysisch-bacchantischen Teil unserer Natur als unseren "eigentlichen" Interessen zuwiderlaufend herab. Zweitens: Sunstein denkt nicht ansatzweise darüber nach, welch' zutiefst negative Anthropologie seiner Grundannahme zugrunde liegt, die Menschen seien nicht selbst imstande, ihre kurzfristigen Interessen mit ihren langfristigen Interessen abzugleichen. Genau das aber macht doch wohl die Natur eines jeden Menschen aus, sei er nun 20, 40, 60 oder 80: dass er sich nicht das Nachdenken über sich, seine Freiheit und seine Verantwortung erspart, dass er versucht, mit sich und seinem Handeln im Reinen zu sein. Das aber hieße: Aller Paternalismus, der über Information hinausgeht, schwächt den Kern der Humanität. 

Drittens schließlich blendet Sunstein aus, dass jedes "framing" der Regierungen immer schon von einem bestimmten Ziel her erfolgt; andernfalls ergäbe es überhaupt keinen Sinn. Das aber heißt nichts anderes als: Jedes "wirksame Regieren" ist im Kern paternalistisch, prozedural, an "die Wahrheit" seiner Zeitumstände gebunden - und damit gefährlich. Vor 40 Jahren hätte man unter "liberalem Paternalismus" womöglich noch verstanden, Homosexuellen in Bordellen Rabatte auf Blondinen zu gewähren, um ihnen das Abrücken von ihrer "Veranlagung" zu erleichtern - in ihrem eigenen Interesse, versteht sich. 

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%