Tauchsieder

Ein Erdbeben - mit Folgen?

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"Die Landtagswahlen sind ein Menetekel für Merkels Regierungsstil"

Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass heute Abend Guido Wolf und Julia Klöckner (beide CDU) mehr Stimmen einsammeln als Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Malu Dreyer (SPD), die Regierungschefin von Rheinland-Pfalz. Aber unwahrscheinlich ist es doch. Wolf und Klöckner haben, heillos verunsichert vom Umfragehoch der AfD, das Bild politischer Verzweiflungstäter abgegeben - noch bevor sie ein Fünkchen Verantwortung tragen. Dagegen wirken Dreyer und Kretschmann, was auch immer der ein oder andere auch gegen sie und ihre Parteien einwenden mag, gegenwärtig wie Politiker von Maß und Mitte, von Format, Vernunft und alter Schule.

Auch das hat paradoxerweise mit Merkel zu tun, die seit Jahren allen Streit vermeidet, der die Wähler des politischen Gegners mobilisieren könnte und dadurch für eine beispiellose Verflachung des politischen Diskurses gesorgt hat. Weder Mindestlohn und Atomausstieg noch Euro-Rettung und Flüchtlingskrise sondern eine buchstäblich wert-lose Politik, die sie selbst als „alternativlos“ bezeichnet, fällt der Merkel-Union womöglich heute vor die Füße.

Die Landtagswahlen sind ein Menetekel für Merkels präsidialen Regierungsstil, für die Große Koalition - und möglicherweise auch für die politische Stabilität im Land insgesamt. Nach Euro-Drama, Griechenland-Bailout und Flüchtlingskrise, nach Rettungspaketen, Kehrtwenden und Rechtsüberdehnungen im Monatstakt, nach geldpolitischer Geisterbahnfahrt, europapolitischer Sackgassenpolitik und kanzleramtlich verordnetem Alleingang in Sachen Migration ist das Vertrauen vieler Wähler in die Berliner Politik dahin - und es zeichnen sich einige nachhaltige Veränderungen im Parteiengefüge der Bundesrepublik ab.

Zunächst einmal: Die AfD wird in den nächsten fünf Jahren zur deutschen Politik gehören, ob man das gut heißt oder nicht. Wenn sich damit eine Re-Mobilisierung der „Ausgeschlossenen“ und „Abgehängten“ verbindet, die sich in den vergangenen Jahren nicht mehr repräsentiert gefühlt haben, wäre das zunächst einmal zu begrüßen: In der politischen Artikulation seiner Bürger spiegelt sich ein Land gewissermaßen selbst - und es kann nicht schaden, dass Deutschland dabei ersichtlich (!) keine allzu gute Figur macht.

Vor allem die Union hat die Gefahr von rechts, das gärende Ressentiment des kleinbürgerlichen Prekariats, jahrelang skandalös unterschätzt - der zu erwartende Riesen-Erfolg der AfD in Sachsen-Anhalt ist auch ein Reflex des Wählers auf die Verbindung von lässig verordneter Niedriglohn-Politik mit selbstgefälliger „Uns-ging-es-noch-nie-so-gut“-Rhetorik.

Die Linke hat immer nur einem Teil dieser Wähler eine politische Heimat sein können. Die AfD unterscheidet sich von den Linken nun möglicherweise dadurch, dass sie auch Nicht-Wählern das ist, was diese für eine vernünftige Wahl-„Alternative“ halten. Es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die Wahlbeteiligung (zuletzt selbst bei Bundestagwahlen auf rund 70 Prozent gefallen, in Sachsen-Anhalt lag sie 2011 bei gut 50 Prozent) heute leicht steigt - und dass wir in den nächsten Jahren an Wahlabenden ehrlicher als bisher Auskunft erhalten über die „politische Stimmung“ in Deutschland.

Der Erfolg der AfD bedeutet zweitens, dass die Bürger in den nächsten Jahren in instabilen Fünf-bis-Sechs-Parteien-Parlamenten repräsentiert sind, dass große Koalitionen an Renommee einbüßen und stabile Lager der Vergangenheit angehören. Beispiel Sachsen-Anhalt: CDU und SPD repräsentieren im Landtag derzeit 54 Prozent der Wähler, die beiden Oppositionsparteien Linke und Grüne nur rund 31 Prozent.

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