Ganz anders verhält es sich mit dem Liberalismus als Hauptwort, der hierzulande fast nur noch als ein ökonomischer Begriff im Umlauf ist. Dabei hat sich das Bedeutungsfeld des Liberalismus zuletzt dramatisch verändert. Vor zehn Jahren noch hörte er sich, hochgestimmt zur Reformmetapher, hell und harmonisch nach einem Akkord aus „Privatisierung“, „Unternehmertum“ und „wirtschaftlicher Freiheit“ an, während er seit der Krise vor allem als disharmonische Phrase wahrgenommen wird, die dunkel und dräuend von Laissez-faire-Kapitalismus, Marktradikalität und Sozialstaatsabbau kündet.
Theoretisch gesprochen heißt das: Wenn in den USA von Liberalismus die Rede ist, denkt man an John Rawls, Charles Taylor oder Michael Walzer, die viel über Gerechtigkeit, Gemeinwohl und Güterverteilung, über die Grundlagen der Moral und das gesellschaftliche Zusammenleben nachgedacht haben. Während man in Deutschland vor allem an Friedrich August von Hayek, Milton Friedman und Ronald Reagan denkt - und daran, dass Liberalismus vor allem die Liberalisierung von Märkten meint und alles protegiert, was Kapitalinteressen, der Globalisierung und der Steigerung des Bruttosozialprodukts dient.
Will man die Malaise des Liberalismus in einen Satz fassen, müsste man wohl sagen: Er ist ein Gefäß der Freiheit, von dem ein jeder sehr genau zu wissen meint, welche Freiheit hineingehört. Die sich hierzulande besonders gern (und fälschlicherweise) als "Liberale" bezeichnen, suchen der Bedeutungsfülle des Liberalismus daher durch eine besonders anspruchslose Definition von Freiheit zu entgehen: Der Liberalismus soll ein exklusives Reservat sein für Menschen, die mit dem Postulat der Freiheit keine positiven Ziele verfolgen. Die Freiheit ist diesen Liberalen kein Mittel zur Erreichung von Zwecken, sondern Zweck an sich: eine negative, ausgenüchterte, restlos nicht-utopische Freiheit, die weder Traditionen pflegt (Konservativismus) noch das Paradies auf Erden herbeizaubern will (Sozialismus). Es ist ein Liberalismus ohne Kompass und Horizont, der die Menschen sich selbst überlässt, solange dafür gesorgt ist, dass jeder unbehelligt seiner Wege gehen kann. Es ist ein klinischer, von allen qualitativen Selbstansprüchen gereinigter Liberalismus, der seine Attraktivität vor allem aus der Leichtigkeit bezieht, mit der er sich im Alltag behaupten und gegen jede Form von Einmischung in Stellung bringen lässt: Die Grünen wollen mich bevormunden! Mir mein Recht aufs Billigschnitzel nehmen! Mir die Freiheit rauben, mit Tempo 220 über die Autobahn zu brausen!