Das Problem dieser Form von Liberalismus ist nicht, dass kein Theoretiker der Welt sich jemals für ihn ausgesprochen hätte. Sondern dass er seinen eigenen Ansprüchen niemals gerecht werden kann. Man kann "liberal" nicht an sich, sondern nur mit Blick auf etwas anderes, auf eine Substanz, auf einen Gehalt hin sein. Das muss sich auch der Liberalismus der "negativen Freiheit" eingestehen, der den Schutz des Eigentums und der individuellen Freiheit zu seinen Primärsubstanzen zählt.
Das heißt, Freiheit, so eng sie auch definiert ist, ist immer von Voraussetzungen abhängig, die ihren Erhalt garantieren. John Locke leitete die Freiheit aus den Naturrechten ab. Alexis de Tocqueville baute die Freiheit auf den Grundpfeilern von Tradition und Religion. John Stuart Mill suchte die Freiheit durch eine Pädagogik der Selbstvervollkommnung auf Dauer zu stellen. Und Immanuel Kant gründete die Freiheit auf der unhintergehbaren Würde und Autonomie des Einzelnen. Kurzum, eine unbestimmte, gehaltlose Freiheit zu denken, ist unmöglich, ohne den Sinn dessen zu dementieren, was Freiheit als einer spezifisch menschlichen Qualität auszeichnet: die Freiheit nämlich zur Gestaltung der Freiheit.
Geschichtlich betrachtet, ist das eine Selbstverständlichkeit: Für einen griechischen Bürger bedeutete Freiheit, sich als tugendhaftes Mitglied der Polis auszeichnen zu können, als zoon politikon an der Gestaltung der Gemeinschaft mitwirken zu dürfen. Im christlichen Mittelalter bedeutete Freiheit, sich an je seinem Platze in die besten aller Ordnungen zu fügen, sich als kleines Rädchen im göttlichen Weltgetriebe zu erleben. Heute meint Freiheit wohl vor allem individuelle Freiheit, die Verfügung über sich selbst, die personale Meinungs-, Eigentums- und Willensfreiheit. Sie findet in den Idealen der Amerikanischen und Französischen Revolutionen ihren schönsten politischen Ausdruck - und sie prägt bis heute unser modernes, demokratisches Selbstverständnis. Freilich: Die Verfolgung dieser individuellen Freiheit bedeutet, dass wir einerseits dazu tendieren, keine “innere Pflicht” (Kant) mehr zu verspüren, uns für das Gemeinwohl zu engagieren - und andererseits keine "innere Pflicht", unser Verhältnis zum Staat anders als in Form von Ansprüchen und Rechten zu regeln.