Tauchsieder

Giftendes Triumphgeheul

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Eine Politik der Politiklosigkeit

Wenn wir sie indes schon heute für „alles“ in Anspruch nehmen können - was wäre mit der satirischen Kunst- und Meinungsfreiheit für Deutschland (und nicht gegen Autokraten) noch zu gewinnen? Muss man sich in liberalen Gesellschaften, in denen prinzipiell „alles“ zustimmungspflichtig geworden ist, nicht umgekehrt die Frage stellen, ob das Toleranzgebot totalitäre Züge annimmt und zu einem Toleranzdiktat verkommt, genauer: zu einem schwachtoleranten Mentalitätsregime, das uns eine allumfassende Gleich-Gültigkeit antrainiert? Toleranz heute ist auf Nachsicht und Nachgiebigkeit hin angelegt, auf Duldung und Schulterzucken.

Sie ist ausgedünnt zu Indifferenz und dezidierter Interesselosigkeit. Sie hat ihren kleinsten gemeinsamen Nenner in der Formel „Jeder nach seiner Facon“ gefunden. In einer solchen Situation des Laisser-Faire ist Satire unmöglich - wogegen sollte sie sich richten? Allein die Wenigen, die auf Unterschiede pochen und auf die Unzeitgemäßheit qualitativer Urteile, können Satiriker heute noch ins Säurebad ihrer routinierten Ironie tauchen. Sie sind die neuen Machtlosen, zu deren Anwalt sich Satire, traditionell ein Instrument der Machtbegrenzung, eigentlich machen müsste.

Tatsächlich hätte Satire sich daher heute vor allem gegen die Pegidisten des Guten zu richten, die einem allabendlich als witzboldende Wüteriche im Fernsehen begegnen: gegen die Böhmermanns und Welkes, die sich in bruchloser Übereinstimmung mit dem Common Sense und auf billigst mögliche Weise mit dem Allerselbstverständlichsten gegen das Allerselbstverständlichste verbünden - und ihren aggressiven Regressionshumor Satire nennen. In diesem Humor kommen beispielsweise Politiker und gläubige Menschen, wenn sie etwa Gegner der Schwulenehe oder Kritiker der Reproduktionsmedizin sind, nur noch als „Vollpfosten“ vor.

Dieser Humor will keine Fronten aufbrechen wie die Satire, sondern die Reihen schließen: gegen alles, was nicht auf der Höhe der Zeit ist. Dieser Humor ist giftendes Triumphgeheul, weil er Conchita Wurst benötigt, um Vladimir Putin über das westliche Freiheitsverständnis zu belehren und „Ziegenficker“ in Anspruch nimmt, um Erdogan Mores zu lehren.

Dieser Humor spielt einer Politik der Politiklosigkeit in die Hände, weil er darauf ist, auf keinen Fall widerständige Gedanken zu mobilisieren, alle Welt in selbstbezügliche Albernheit auflöst und hinter dem Vorhang des medialen „Spiels“ und „Fakes“ zum Verschwinden bringt. Dieser Humor trainiert nicht den „Freiheitsmuskel“, wie Teile des deutschen Feuilletons meinten, sondern raubt ihm, ganz im Gegenteil, die letzte Kraft. Er macht Erdogan zur Referenz unserer restlos ausgedünnten Freiheit. Ärmer geht’s nicht. Sehen Sie sich nur mal das Video der FDP-Politikerin Lencke Steiner an - dann werden Sie wissen, was ich meine:

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