Herrhausens frappierende Aktualität drückt sich zunächst einmal darin aus, dass er die Ambivalenz der Moderne als ihr entscheidendes Merkmal respektiert und scheinbar Gegensätzliches mühelos zusammen denkt: Macht und Verantwortung, Freiheit und Bindung, Staat und Wirtschaft, Führung und Moderation. Herrhausen weiß, dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist - es sei denn auf Kosten des Gesamtüberblicks, zum Preis der Wirklichkeitsverzerrung. Herrhausen verabscheut Einseitigkeiten, die "geistige Verengung" seiner Zunft und ihrer Vertreter, den "Ressortegoismus", die Fokussierung auf den "Wachstumszwang", die "Konzentration auf das Nur-Ökonomische".
Als Sprecher der Deutschen Bank, der er seit 1985 ist, hat er eben nicht nur die schwarzkünstlerischen Selbstvermehrungskräfte des Geldes an den Kapitalmärkten, die Verwöhnung seines Instituts mit ausreichend Eigenkapital und Rendite im Sinn, sondern auch und vor allem das "Rollenverständnis" der Banken. Die gewinnträchtige Bewirtschaftung von Kapital empfindet er als selbstverständliche Managerpflicht; die ständige Standortbestimmung der Wirtschaft in der Gesellschaft als seinen staatsbürgerlichen Auftrag.
Alfred Herrhausen lässt keinen Zweifel daran, dass die Deutsche Bank sich "nicht allein darauf beschränken" kann, "gute Geschäfte zu machen"; dass sie im Gegenteil "auf Akzeptanz angewiesen" ist, je größer ihre Gebäude, je abstrakter ihre Produkte, je globaler ihre Geschäfte werden. Sein unternehmerisches Handeln stellt er daher unter "dauernden Begründungszwang". Stets ist er um eine "bestimmte Autorität", um "gesellschaftliche Verantwortung" und um die "Auslegung unserer Funktion" bemüht, also darum, "sich und anderen die Bezogenheit unserer... Einzelaufgabe zum Ganzen" bewusst zu machen. Man könnte auch sagen, dass Alfred Herrhausen der letzte Kapitalist in Frankfurt ist, der ein echtes, ehrliches Interesse an der Einbettung von Quartalszahlen in den gesamtgesellschaftlichen Kontext offenbart: Handlungsreisender und Verantwortungsethiker in einer Person, zugleich homo oeconomicus und zoon politicon, gleichzeitig Globalmanager und demokratievernarrter Patriot. Man kann sich Alfred Herrhausen in den Achtzigerjahren jederzeit als Staatssekretär vorstellen, als Minister, als Chef der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, als Honorarprofessor für Sozialökonomie - oder als Bundespräsidenten. Die meisten Staatschefs würden die meisten seiner Reden gerne halten.
Mit beinahe kindlicher Zuversicht glaubt Herrhausen an eine Identität von Fortschritt und Vernunft, an die Aufwärtsentwicklung einer aufgeklärten Menschheit. Mit der Kant’schen Aufforderung, das Wissen zu wagen, verbindet er die Hoffnung auf eine glückliche Überwindung von Vorurteilen und Ideologien, auf die Rationalität einer Handlungsmoral kraft Verstand, Evidenz und Erfahrung. "Richtiges, fehlerfreies Denken" nennt Herrhausen das. In seinem ständigen Bemühen um eine "Abbildung von Wirklichkeit, so wie sie ist", beruft er sich auf den Philosophen Karl Popper und die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar."
Natürlich könnte Herrhausen sich dabei auch Jürgen Habermas verpflichtet fühlen; beiden gilt der "Sachverhalt" als kommunikatives Projekt; beide suchen "Wahrheit" im Konsens vernünftiger Sprecher; beide wollen einem freien Diskurs normative Realitäten abgewinnen, mit denen der gesellschaftliche Fortschritt zugleich bezeugt und formiert wird. Nur auf diese Weise, im faktenbasierten Wägen und Wiegen der Tatsachen und Sichtweisen, so Herrhausen, und im Vertrauen auf eine Moral, die bereit ist, sich klug zu machen, können sich die "Dissonanzen des Fortschritts", das "Problem des Umweltschutzes, der Entwicklungsländer, der Frage der Vermögensverteilung" als produktive, "schöpferische Unruhe" erweisen, als "Quelle für neue Kraft zur positiven Veränderung, zur besseren Gestaltung... - wenn wir es wollen".