Tauchsieder

Lauf, Mädchen lauf!

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Exzellentes Abiturzeugnis, Kirsch-Whiskeys im Keller

Angela darf studieren. Sie hat ein exzellentes Abiturzeugnis, ihr Vater ist gut verdrahtet in der Kirchenhierarchie, da lässt sich was machen. Es ist 1973. Joschka Fischer prügelt sich in Frankfurt mit Polizisten, Gerhard Schröder wird in Hannover Gewerkschaftsmitglied, Guido Westerwelle geht in Bonn auf die Realschule, Helmut Kohl lässt sich zum Chef der CDU krönen.

Angela Kasner mischt Kirsch-Whiskeys in der Kellerbar ihres Leipziger Studentenwohnheims. Sie hat Sandalen an und Jeans, sie ist beliebt, gesellig und immer auf Achse, sie zeltet wild und geht mit Rucksack ins Gebirge, sie macht Interrail im nahen Osten, Budapest und Prag, Bukarest und Sofia. In Leipzig lebt sie studentisch, bescheiden, kommt mit zehn Quadratmetern aus, mit Bett, Schrank, Schreibtisch und Etagenklo, ist anspruchslos und braucht nicht viel, ach ja, einen Mann vielleicht: Ulrich Merkel, er ist 24, sie 23, als sie heiraten, es war so üblich, hat Angela Merkel einmal auf die Frage nach dem Warum gesagt. Nach fünf Jahren stimmt die Chemie nicht mehr, die Ehe wird geschieden. Angela Merkel zieht weiter. Sie nimmt die Waschmaschine mit - und seinen Namen.

Angela Merkel (m) zwischen dem Finanzminister der DDR Walter Romberg 2. v.l. und dem bundesdeutschen Finanzminister Theo Quelle: dpa

Seit 1978 lebt Angela Merkel in Ost-Berlin. Eine Stelle als Lehrerin für Russisch und Physik wird ihr vom Staate Honecker verwehrt, also fängt sie als Mitarbeiterin bei der Akademie der Wissenschaften an. Ein Wohnberechtigungsschein wird ihr verweigert, also zieht sie durch die Straßen im Prenzlauer Berg, sucht vier Wände, die keiner braucht und zieht ein; sie lebt von 650 Ostmark im Monat, zwischen Sperrholz, Schimmel, Schädlingen. Als ihr Vater sie zum 30. Geburtstag besucht, stellt er fest: "Sehr weit hast du’s noch nicht gebracht."

Angela Merkel läuft im Kreis. Sie mischt ein bisschen mit bei der FDJ, hält sich sporadisch in Ostberliner Kirchenkreisen auf; hier diskutiert sie über Gott und die Welt, dort streicht sie den Disco-Keller. Richtig warm wird sie weder mit Karl Marx noch Jesus Christus; lieber befreundet sie sich mit sich selbst. Angela Merkel sammelt Bildung, lädt ihren Speicher auf, frisst Bücher, Popper, Grass und Böll, Bulgakow, Gogol, Solschenizyn, "ich las, was ich kriegen konnte". An der Akademie darf sie "Nature" und "Science" studieren, nach Feierabend blättert sie im "National Geographic", und wenn sie morgens vor acht Uhr den S-Bahnhof Schönhauser Allee erreicht, ist meistens noch ein Exemplar des "Morning Star" zu haben, das Organ der kommunistischen Partei Großbritanniens, das sie zur Vertiefung ihrer Englisch-Kenntnisse nutzt. Angela Merkel ist ehrgeizig, nicht zielstrebig, voller Tatkraft eingeengt und eingeschränkt.

Die DDR hält ihre Geschwindigkeit ziemlich konstant; Angela Merkel ist zum stehenden Marschieren verdammt. Ihr Motor läuft auf Hochtouren, einen Gang einlegen darf sie nicht. Auf die politische Zuspitzung Ende der Achtzigerjahre reagiert sie mit vorsichtiger Gespanntheit. Das Gemeinschaftserlebnis in der Zionskirche ist ihr physisch unangenehm, weder will sie den sozialistischen Käfig vergolden noch das Ende der DDR herbeibeten, sie mag keine Wärmezonen im Kerzenlicht, keine untergehakte Solidarität, "kein Ringelpitz-Verhalten zur Durchsetzung politischer Ideen". Als das Licht in der DDR verglimmt, geht Angela Merkel nicht für Frieden, Freiheit, Vaterland auf die Straße. Aber als die Mauer fällt, rennt sie los, lässt ihre aufgestauten Energien überschießen. Sie geht raus aus der Lehre und rein ins Leben, will gebraucht werden, anpacken, loslegen, natürlich demokratisch, aber Hauptsache: Aufbruch.

Ein politisches Programm verfolgt sie nicht. Die SPD verabsolutiert das Soziale, die Grünen das Ego, die FDP die Freiheit vom Staat, die Bürgerbewegten den inneren Frieden. Angela Merkel ist das alles zu abstrakt, zu hochtrabend, zu kategorisch. Sie sucht ein Betätigungsfeld, keinen Bekenntnisort. Erste Lösungen, nicht letzte Antworten.

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