Tauchsieder

Gerechte Freiheit - Ideal oder Oxymoron?

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"Freiheit mit Tiefe"

Was sich für einen Liberalen auf den ersten Blick wie ein zustimmungspflichtiger Satz anhört, ist in Wahrheit seine Provokation. Denn Pettit versteht Freiheit nichts als individuelle Freiheit sondern als interdependete Freiheit, nicht als Freiheit der Nichteinmischung, sondern als Freiheit der Nichtbeherrschung. Gesetze und sittliche Normen sind für ihn daher auch keine notwendigen Übel, damit der Mensch seine natürliche Freiheit möglichst ungestört entfalten kann, sondern die Mittel, die für Sicherheit sorgen - und also die Freiheit schaffen, der sie dienen.

Anders als bei den Liberalen der klassischen Schule nimmt Pettits Begriff von Freiheit seinen Ausgangspunkt nicht im gedachten Raum der Chancen und Möglichkeiten, die sich dem einzelnen Individuum eröffnen, sondern in der Ausschaltung von Kontrollvorbehalten, mit dem der eine Mensch über den anderen Macht ausübt - beziehungsweise Macht ausüben kann. Es ist eine Freiheit, die sich nicht als Abwesenheit von Zwang versteht (Liberalismus), aber auch nicht von der Voraussetzung abhängt, dass sie miteinander ergriffen wird (Kommunitarismus), sondern eine Freiheit, in der niemand auf die Gnade oder die Gunst, die von einem anderen entweder gewährt werden oder nicht, angewiesen ist.

Damit erinnert Pettit einerseits an den „Liberalismus der Furcht“ der amerikanischen Politologin Judith Shklar, der ebenfalls auf Immanuel Kants Rechtsfreiheit und Republikanismus fußt; er selbst nennt diesen Aspekt „Freiheit mit Tiefe“. Andererseits beleiht er die Theorien der „Ermächtigung“, die in den vergangenen Jahren vor allem von Amartya Sen oder Martha Nussbaum popularisiert wurden - Pettit nennt es „Freiheit mit Breite“: Selbstverständlich hängt der Schutz einer „Freiheit aller gegen alle“ von materiellen und immateriellen Voraussetzungen (etwa: Arbeit, Mindesteinkommen, Zugang zu Bildung, Wohnsitz) ab. Nur wer auf diese Weise „abgesichert“ ist, kann auch als freier Mensch auftreten. Nur eine in diesem Sinne gerechte Gesellschaft ist für Pettit auch eine freie Gesellschaft - und umgekehrt: Nur eine in diesem Sinne freie Gesellschaft auch eine gerechte.

Freiheit ist Gerechtigkeit also? Was genau kann man sich darunter vorstellen? Welche moralischen Schlüsse lassen sich aus der politischen Norm einer „Freiheit als Nichtbeherrschung“ ziehen? Welche Vorteile hat sie gegenüber alternativen Konzepten? Pettit versucht zu konkretisieren, über welche Ressourcen die Menschen verfügen müssen, um sich ihrer Freiheit sicher sein zu können - und überprüft auf drei Ebenen a) ihr Verhältnis zueinander (unter welchen Bedingungen ist Gerechtigkeit erreicht?), b) das Verhältnis zwischen Individuum und Staat (wann können wir von einer Demokratie sprechen?) und c) das Verhältnis „Staat - Staat“ (wie sähe eine Weltordnung aus, in der aller Staaten gegen alle gleich souverän sind?).

Als Kriterien für seine Vorschläge dienen ihm analog zu den drei Ebenen drei leicht verständliche „Tests“: Der „Blickwinkel-Test“ (auf der Ebene Mensch-Mensch) zum Beispiel fragt nicht nur nach unserer Fähigkeit, die Lebensperspektive eines anderen einzunehmen und ihn als liber respektvoll zu behandeln. Sondern er stellt auch die Frage, ob alle Menschen mit den Ressourcen ausgestattet sind, die es ihnen erlauben, dem Nächsten ohne Grund zur Furcht oder Ergebenheit in die Augen zu schauen.

Entsprechend geht es beim „Pech-gehabt-Test“ (auf der Ebene Individuum - Staat) darum, dass sich der Wert einer demokratischen Entscheidung danach bemisst, in wie weit sie mit Blick auf ein möglichst allgemeines, im Vorfeld möglichst breit erörtertes Interesse als möglichst geteilte Entscheidung getroffen wird. Einigt sich etwa eine Gesellschaft, die über eine funktionierende Öffentlichkeit und nicht-staatliche Einflussmöglichkeiten verfügt, auf den Ausbau von regenerativen Energien, ist das Pech, dass ausgerechnet an meinem Haus eine neue Stromtrasse vorbei führt, als Pech hinnehmbar, weil es sich erkennbar nicht um bösen Regierungswillen oder um die willkürliche Durchsetzung von Partikularinteressen handelt.

Der „Offene-Rede-Test“ schließlich (auf der Ebene Staat - Staat) verleiht einem Ideal internationaler Beziehungen Ausdruck, in der es keine Herr-und Knecht-Verhältnisse zwischen souveränen Staaten gibt - solange es sich bei diesem souveränen Staat um einen Staat handelt, der die souveränen Freiheiten der Bürger untereinander und in ihrem Verhältnis zum Staat respektiert.

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