Tauchsieder
Instabil von Anfang an. Aufständische Spartakisten in Berlin 1918. Quelle: imago images

Fünf Gründe für die Krise der Demokratie

Vor 100 Jahren rief Philipp Scheidemann die erste deutsche Republik aus. Ihr Ende ist bekannt. Heute fordern Rechtspopulisten die Demokratie heraus – auch weil die globale Wirtschaftselite versagt.

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Der Nationalismus ist zurück, der Rechtspopulismus, ein instabiles Vielparteiensystem. Heißt es. Aber was 100 Jahre nach der Gründung der Weimarer Republik tatsächlich zurück ist, ist der windschiefe historische Vergleich, eine geschichtsblinde Angstgrusellust, mit der oberflächenphänomenal nach „Weimarer Verhältnissen“ in der Berliner Republik gefahndet wird, um sich das Nachdenken über die Gegenwart zu ersparen.

Die Weimarer Republik war von Anfang an, seit Philipp Scheidemann am 9. November 1918 auf den Westbalkon des Reichstags trat und sie ausrief, vierfach belastet: vom Misstrauen der europäischen Nachbarn und von wirtschaftlicher Unfreiheit (Versailler Vertrag), von einer zersetzenden Basislüge (Dolchstoßlegende) – und von der Feindseligkeit, mit der Monarchisten, Militärs, Beamte, Kommunisten sie bekämpften. Viele Stützen der Gesellschaft trugen damals die Buchstaben der Republik, nicht ihren Geist. Die drei Verfassungsparteien – SPD, Zentrum und DDP-Demokraten – büßten bereits im Juni 1920 mehr als ein Viertel ihrer Stimmanteile ein und waren seither auf die Feinde der Republik angewiesen, um Mehrheitsregierungen zu bilden.

Die Berliner Republik dagegen blickt in Westdeutschland auf bald 75 Jahre Demokratie zurück. Sie wurzelt tief in der Europäischen Union und prosperiert auf dem Fundament der sozialen Marktwirtschaft. Ihr Selbstverständnis basiert auf der mahnenden Erinnerung an Naziterror und Holocaust. Sie wird erfreulich stolzarm von zivilen Militärs und vorschriftstreuen Beamten repräsentiert. Und zur politischen Willensbildung tragen vor allem sieben Parteien bei (einschließlich der CSU), von denen sechs staatstragend sind.

Es ist daher völlig unangemessen, „Weimarer Verhältnisse“ herbeizuraunen, auch indirekt, im dräuenden Gebrauch der Stabilitätsvokabel, mit der etwa Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die SPD vor einem Jahr in die „große Koalition“ gedrängt hat. Man banalisiert die Tiefe der ideologischen, konfessionellen, politischen und sozialen Gräben 1918 ff., die Gewaltbereitschaft der Straße und die Re-Revolutionsbereitschaft der konservativ-bürgerlichen Elite, die existenzielle Wucht der Modernisierungsschübe und soziokulturellen Brüche, wenn man Weimar mit den materiellen Sorgen, wutbürgerlichen Verlustängsten und leitkulturellen Orientierungsschwierigkeiten vieler Menschen in liberalen Wohlfahrtsstaaten vergleicht.

Was tatsächlich an Weimar erinnert und uns besorgen muss, ist der breite Erfolg der AfD – ihre schamlose Ausbeutung von Statusunsicherheit und Elitenkritik, ihre schicksalsschwangere Rhetorik, ihr binäres Freund-Feind-Denken, ihr Hang zu Postfaktizität und Legendenbildung, ihre Denunziation der „Altparteien“ und der „Systempresse“, ihr humanitätszersetzender Fremden- und Linkenhass.

Doch selbst in diesem Punkt fördert eine Analogie mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten zutage. Der moderne Rechtspopulismus blüht ja nicht mehr je national, sondern weltweit, nicht mehr primär auf dem Boden rein staatspolitisch adressierbarer Problemlagen, sondern auf dem Boden globalpolitisch schwer regierbarer Interessen und Kulturkonflikte: Migration, globale Arbeitsteilung, Terrorismus und Kapitalkonzentration, auch die Ortsgebundenheit der Arbeiter und Angestellten, die in krassem Gegensatz zur (steuer-)flüchtigen Exterritorialität der Konzerne und Superreichen steht.

Die empirische Basis des demokratischen Wohlstandsversprechens verblasst daher gegenüber der behaupteten Wohlstandsverteidigung der Rechtspopulisten. Zumal es weder Donald Trump noch Alexander Gauland um einen Staatsstreich geht, sondern darum, auf der offenen Bühne der Demokratie am inkrementellen Abbau ihrer Voraussetzungen zu arbeiten. Vor allem fünf Entwicklungen im Weltinnenraum der Marktdemokratien verschärfen ihre gegenwärtige Existenzkrise.

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