Tauchsieder

Gerechte Freiheit - Ideal oder Oxymoron?

Liberale, aufgepasst: Der irische Philosoph und Princeton-Professor Philip Pettit versteht Selbstbestimmung als ökumenischen Wert und entwirft einen „moralischen Kompass für eine komplexe Welt“. Was taugt sein republikanischer Begriff von Freiheit - und was sein neues Buch?

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Primark und Produktionsbedingungen in Bangladesch Quelle: dpa, Montage

In Henrik Ibsens Theaterstück „Nora“ ist allein die formale, die dramatische Welt in bester Ordnung. Alles schnurrt dem Höhepunkt am Ende des dritten und letzten Aktes entgegen, die Bühne ist frei für Thorvald Helmer und sein „süßes, kleines Ding“, und Nora deklamiert die entscheidenden Sätze über ihren Vater, ihren Mann, über sich: „Er nannte mich sein Puppenkind und spielte mit mir, wie ich mit meinen Puppen spielte… Unser Heim war nichts anderes als eine Spielstube“. Das klingt schrecklich explizit heutzutage, gewiss, gerade so, als habe Ibsen sein Stück auf seine gymnasiale Bearbeitung hin verfasst.

Sei’s drum. Denn natürlich feuern wir Nora innerlich an, als sie sich endlich aus dem Gefängnis der Ehre, des Status und der Konvention befreit, in das Thorvald sie gesperrt hat, als sie ihn von seinen „Verpflichtungen“ entbindet, ihn mit großer Geste verlässt - und als die „Haustür dröhnend ins Schloss fällt“. Und doch bleibt Noras Autonomiegewinn am Ende des Stückes in einem entscheidenden Punkt unvollendet - weil Thorvald ihn nicht mitvollziehen kann. Für ihn, der Nora wie sein Vögelchen im goldenen Käfig des standes- und sittengemäßen Wohlversorgt-seins gehalten hat, bleibt die symmetrische Freiheit zweier selbstbestimmter Personen unvorstellbar. Nora lässt einen Mann zurück, der bis zuletzt unfähig ist, seiner Frau „auf Augenhöhe“ zu begegnen. Was, wenn jenseits der Türe lauter Thorvalds auf sie warten?

Es ist schade, dass der irische Philosoph und Princeton-Professor für Politikwissenschaft Philip Pettit das Beispiel der „Nora“ immer wieder an-, aber nicht ausführt, um seine Theorie der „Freiheit als Nichtbeherrschung“ zu erhellen. Sein soeben auf Deutsch erschienenes Buch - die Quintessenz seiner jahrzehntelangen Bemühungen, normative Maßstäbe für eine gerechte Welt zu entwickeln - hätte literaturhistorische Auflockerungen (und Präzisierungen) gut vertragen. Pettit verzichtet darauf - und tischt dem deutschen Publikum statt dessen philosophisches Graubrot auf: viel zu kauen, wenig zu knabbern.

In endlosen Schleifen und Wiederholungen, Vorwegnahmen und Zusammenfassungen, spekulativen Annahmen und trivialen Beispielen stellt er uns Freiheit als ein „ökumenisches Ideal“ und Demokratie als „harte Arbeit“ vor, um seine aus der Tradition des Republikanismus gewonnene Theorie der Freiheit immer wieder auf dieselbe Formel zu bringen: Frei ist, wer nicht in der Macht eines anderen steht, sondern wer seinen Mitmenschen als Gleicher unter Gleichen begegnen kann. Pettit nennt das „expressiven Egalitarismus“ und stellt gleich zu Beginn klar, wie anspruchsvoll er diesen Satz zu denken gewillt ist: Unabhängig von der Gnade eines anderen zu sein, so Pettit, schließt jede Form von Paternalismus aus - und komme er noch so sanft daher. Oder, um es mit Algernon Sidney, einem Republikaner des 17. Jahrhunderts zu sagen: „Der, der dem besten und freundlichsten Mann der Welt dient, ist genauso ein Sklave wie der, der dem schlechtesten dient.“

"Freiheit mit Tiefe"

Was sich für einen Liberalen auf den ersten Blick wie ein zustimmungspflichtiger Satz anhört, ist in Wahrheit seine Provokation. Denn Pettit versteht Freiheit nichts als individuelle Freiheit sondern als interdependete Freiheit, nicht als Freiheit der Nichteinmischung, sondern als Freiheit der Nichtbeherrschung. Gesetze und sittliche Normen sind für ihn daher auch keine notwendigen Übel, damit der Mensch seine natürliche Freiheit möglichst ungestört entfalten kann, sondern die Mittel, die für Sicherheit sorgen - und also die Freiheit schaffen, der sie dienen.

Anders als bei den Liberalen der klassischen Schule nimmt Pettits Begriff von Freiheit seinen Ausgangspunkt nicht im gedachten Raum der Chancen und Möglichkeiten, die sich dem einzelnen Individuum eröffnen, sondern in der Ausschaltung von Kontrollvorbehalten, mit dem der eine Mensch über den anderen Macht ausübt - beziehungsweise Macht ausüben kann. Es ist eine Freiheit, die sich nicht als Abwesenheit von Zwang versteht (Liberalismus), aber auch nicht von der Voraussetzung abhängt, dass sie miteinander ergriffen wird (Kommunitarismus), sondern eine Freiheit, in der niemand auf die Gnade oder die Gunst, die von einem anderen entweder gewährt werden oder nicht, angewiesen ist.

Damit erinnert Pettit einerseits an den „Liberalismus der Furcht“ der amerikanischen Politologin Judith Shklar, der ebenfalls auf Immanuel Kants Rechtsfreiheit und Republikanismus fußt; er selbst nennt diesen Aspekt „Freiheit mit Tiefe“. Andererseits beleiht er die Theorien der „Ermächtigung“, die in den vergangenen Jahren vor allem von Amartya Sen oder Martha Nussbaum popularisiert wurden - Pettit nennt es „Freiheit mit Breite“: Selbstverständlich hängt der Schutz einer „Freiheit aller gegen alle“ von materiellen und immateriellen Voraussetzungen (etwa: Arbeit, Mindesteinkommen, Zugang zu Bildung, Wohnsitz) ab. Nur wer auf diese Weise „abgesichert“ ist, kann auch als freier Mensch auftreten. Nur eine in diesem Sinne gerechte Gesellschaft ist für Pettit auch eine freie Gesellschaft - und umgekehrt: Nur eine in diesem Sinne freie Gesellschaft auch eine gerechte.

Freiheit ist Gerechtigkeit also? Was genau kann man sich darunter vorstellen? Welche moralischen Schlüsse lassen sich aus der politischen Norm einer „Freiheit als Nichtbeherrschung“ ziehen? Welche Vorteile hat sie gegenüber alternativen Konzepten? Pettit versucht zu konkretisieren, über welche Ressourcen die Menschen verfügen müssen, um sich ihrer Freiheit sicher sein zu können - und überprüft auf drei Ebenen a) ihr Verhältnis zueinander (unter welchen Bedingungen ist Gerechtigkeit erreicht?), b) das Verhältnis zwischen Individuum und Staat (wann können wir von einer Demokratie sprechen?) und c) das Verhältnis „Staat - Staat“ (wie sähe eine Weltordnung aus, in der aller Staaten gegen alle gleich souverän sind?).

Als Kriterien für seine Vorschläge dienen ihm analog zu den drei Ebenen drei leicht verständliche „Tests“: Der „Blickwinkel-Test“ (auf der Ebene Mensch-Mensch) zum Beispiel fragt nicht nur nach unserer Fähigkeit, die Lebensperspektive eines anderen einzunehmen und ihn als liber respektvoll zu behandeln. Sondern er stellt auch die Frage, ob alle Menschen mit den Ressourcen ausgestattet sind, die es ihnen erlauben, dem Nächsten ohne Grund zur Furcht oder Ergebenheit in die Augen zu schauen.

Entsprechend geht es beim „Pech-gehabt-Test“ (auf der Ebene Individuum - Staat) darum, dass sich der Wert einer demokratischen Entscheidung danach bemisst, in wie weit sie mit Blick auf ein möglichst allgemeines, im Vorfeld möglichst breit erörtertes Interesse als möglichst geteilte Entscheidung getroffen wird. Einigt sich etwa eine Gesellschaft, die über eine funktionierende Öffentlichkeit und nicht-staatliche Einflussmöglichkeiten verfügt, auf den Ausbau von regenerativen Energien, ist das Pech, dass ausgerechnet an meinem Haus eine neue Stromtrasse vorbei führt, als Pech hinnehmbar, weil es sich erkennbar nicht um bösen Regierungswillen oder um die willkürliche Durchsetzung von Partikularinteressen handelt.

Der „Offene-Rede-Test“ schließlich (auf der Ebene Staat - Staat) verleiht einem Ideal internationaler Beziehungen Ausdruck, in der es keine Herr-und Knecht-Verhältnisse zwischen souveränen Staaten gibt - solange es sich bei diesem souveränen Staat um einen Staat handelt, der die souveränen Freiheiten der Bürger untereinander und in ihrem Verhältnis zum Staat respektiert.

"Prinzip der Nichteinmischung"

Die Vorzüge von Pettits Konzept liegen auf der Hand. Seine Gerechtigkeit ist minimalistisch und gehaltvoll zugleich: Sie pocht nicht auf Verteilung, „distributive Gerechtigkeit“ und materielle Gleichheit (John Rawls), sondern auf eine viel tiefer liegende, substanzielle, „politische“ Gleichheit in herrschaftsfreien Beziehungen. Zugleich nimmt Pettits Freiheit Maß an den Schwächeren und räumt damit unsinnige libertäre Positionen ab: Seine wirtschaftliche Freiheit würde (auch) nach der Freiheit der Produzenten auf Kaffee-Plantagen und der Fabrikarbeiter in Bangladesch fragen. Und Steuern dürften für Pettit allein deshalb ein Segen sein, weil sie Reichen wie Armen Gnadenverhältnisse ersparen.

Mit Blick auf die internationalen Beziehungen wiederum ist die republikanische Philosophie der Freiheit allein deshalb wertvoll, weil sie das seit dem Westfälischen Frieden (1648) populäre „Prinzip der Nichteinmischung“ (China) unterläuft: Souverän ist (nur), wer seine Bürger als Souverän behandelt. Schließlich darf Pettit mit gutem Recht behaupten, dass sein moralisch anspruchsvolles Doppelideal der Nichtbeherrschung und des Schutzes vor Beherrschung einen sich positiv selbst verstärkenden Prozess initiieren kann - ein Gedanke, der bereits in den antikischen Tugendlehren virulent ist: „Gewährt die Gesellschaft Nora… einen verbesserten Schutz, werden die Maßstäbe für das, was als ausreichender Schutz angesehen wird, als Folge davon wahrscheinlich angehoben“, so Pettit: „Das Ideal ist von sich aus dynamisch.“

Doch was schlägt Pettit, der Anfang des 21. Jahrhunderts zu den Beratern des spanischen Ministerpräsidenten Zapatero gehörte, konkret vor? Er prangert „die jüngste Entstehung einer megareichen Elite“ an, mit der „Macht, Besteuerung zu vermeiden, die Regierung zu beeinflussen und Oligarchien hervorzubringen“, er geißelt die private Finanzierung von Wahlkampagnen, die Macht von Konzernen, Lobbyisten und die Dominanz offen parteiischer Medienorganisationen. Er lobt die Arbeit von Nicht-Regierungsorganisationen und setzt sich für globale Regelungen ein, die auf das Wohlergehen der Bevölkerungen und darauf abzielen, sie vor der Dominanz partikularer Interessen (etwa von Konzernen) zu schützen.

Zum Buch

Manche seiner Vorschläge illustrieren das republikanische Ideal der Machtvermeidung einleuchtend, andere zielen vor allem auf die USA (gesetzliche Krankenversicherung, Fox-News, Strafrechtsreform) und sind mit Blick auf Deutschland und Europa irrelevant. Wieder andere (Kündigungsschutz, Unterstützung der Gewerkschaften) irritieren auch deshalb, weil Pettit nicht mal auf die Idee kommt, auch bei organisierten Vertretung von Arbeitnehmerinteressen könnte es sich um Partikularinteressen handeln. Umgekehrt ist die Expertise von Unternehmen in einer „komplexen Welt“ für Pettit nie Expertise, sondern Maskerade, um „finanzielle Drohungen, gefälschte Analysen, schamlose Desinformation, herbeigeredete Hysterie“ in Umlauf zu bringen: „Diese Gruppen sind Feinde der Demokratie und können nur in Schach gehalten werden, wenn sie an jeder Front durch Aktivisten und Organisationen, die sich im öffentlichen Interesse engagieren, bekämpft werden.“

Merkwürdig. Ausgerechnet ein Buch, das sich 246 Seiten als Stichwortgeber für eine „normative Theorie der Gerechtigkeit“ versteht (und leider sterbenslangweilig geschrieben ist), ruft zwei Seiten vor Toresschluss dazu auf, „das Feuer demokratischer Auseinandersetzung zu nähren“ - und kippt ins hochdramatische Fach. Ob es dem Autor selbst am Ende des Vernünftelns einfach zu viel wurde? Muss, wer Macht begrenzen will, sich tatsächlich so sehr in Zucht nehmen, wie Pettit es verlangt: politisch hellwach, immer auf der Hut, stets das bedenkend, das von allgemeinem Interesse ist? Pettit zufolge darf man nicht mal aus persönlichen Gründen gegen Stromtrassen vor der Haustür sein. Sei nicht egoistisch! Bitte abstrahieren!

Jaja, alles richtig, schon wahr, schon wahr. Aber die Stromtrasse stört halt trotzdem, verdammt - und warum, bitte schön, sollte ich nicht auch mal aus schlechten demokratischen Gründen zornig sein? Und so legt man das Buch am Ende weiter hinten ins Regal, zuckt die Schultern und will anschließend nur noch eins: Spätburgunder schlürfen, Gruyere knabbern, Mozart hören und mächtig viel an sich selbst denken. An sich selbst - und niemanden sonst.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%