Der liberale Kerngedanke, schreibt Jean-Claude Michéa, ist von "biblischer Schlichtheit". Wahrscheinlich deshalb schreibt der französische Philosoph ihn wieder und wieder auf in seinem Essay über "Das Reich des kleineren Übels": Damit ihn auch der flüchtigste Leser bloß nicht verpasst. Der liberale Kerngedanke, schreibt also Jean-Claude Michéa, geht so: Der Anspruch von Individuen, über Auffassungen des Guten, Schönen, Wahren zu verfügen, bringt Auseinandersetzungen und Konflikte hervor, einen "Krieg aller gegen alle" (Thomas Hobbes), in dem ein jeder darauf aus ist, seine Auffassung des Guten, Schönen, Wahren gegen die Auffassung seines Nachbarn durchzusetzen. Deshalb können die Mitglieder einer Gesellschaft nur dann friedlich miteinander auskommen, wenn die mit der Organisation des Miteinanders betraute Macht philosophisch neutral ist.
Anders gesagt: Der liberale Staat, als Utopie geboren nach der Erfahrung der Religionskriege im 17. Jahrhundert, muss sich enthalten, seinen Mitgliedern, die ihn bilden, eine bestimmte Auffassung des guten Lebens aufzuzwingen. Es geht den Liberalen künftig (allein) darum, die konkurrierenden Freiheiten so zu regulieren, dass jedes Individuum seine Freiheit barrierefrei verfolgen kann, solange der Nächste dabei keinen Schaden nimmt. Die Regierung, so bringt es der Schweizer Staatstheoretiker Benjamin Constant (1767 - 1830) auf den Punkt, "mag sich darauf beschränken, gerecht zu sein. Wir werden uns um unser Glück kümmern." Ein Staat ist nach Ansicht eines Liberalen genau dann ein gerechter Staat, wenn er über eine gute Rechtsprechung verfügt. Ein Staat ohne inneren Ideale und Werte. Ein Staat, der moralisch blind ist wie Justitia. Ein Staat, der nicht denkt.
Das sind die wettbewerbsfähigsten Länder der Welt
Die wirtschaftlich stärkste und wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft der Welt sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Das hat das IMD World Competitiveness Center in seiner aktuellen Vergleichsstudie bekannt gegeben. Dementsprechend fliegen ausländische Unternehmen auf den Wirtschaftsstandort Amerika.
Besonders attraktiv finden Firmen in den USA die dynamische Wirtschaft (57,4 Prozent), die qualifizierten Arbeitskräfte (56,4 Prozent), den guten Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten (44,6 Prozent) sowie den starken Fokus auf Forschung und Entwicklung (43,6 Prozent).
In den Einzelwertungen holte die USA gleich 13 Mal den ersten Platz, darunter unter anderem bei Direktinvestments, beim Export oder dem Risikokapital.
Der zweite Platz geht an die Schweiz. Der kleine Alpenstaat mit seinen nur rund acht Millionen Einwohnern hat die weltweit niedrigste Inflationsrate und punktet besonders mit sehr gut ausgebildeten Fachkräften und hohen wissenschaftlichen Standards. Unternehmen aus aller Welt schätzen die politische Stabilität in der Schweiz genauso wie die gut ausgebildeten Arbeitskräfte vor Ort, die hohe Bildung, die herrschenden Steuersätze und die verlässliche Infrastruktur.
Die Bronzemedaille geht in diesem Jahr an die chinesische Sonderverwaltungszone Hongkong. Im Vorjahr hatte es die chinesische Metropole jedoch noch auf Platz eins geschafft. Unternehmen aus aller Welt schätzen Hongkong besonders wegen der attraktiven und wettbewerbsfähigen Besteuerung der Unternehmen, dem wirksamen Rechtssystem, der unternehmerfreundlichen Umgebung, der verlässlichen Infrastruktur und der dynamischen Wirtschaftsentwicklung. Ganz gut steht Hongkong auch bei der Höhe der Steuersätze für die Bürger, dem Bank- und Finanzsektor sowie den Direktinvestitionen da.
Schweden hat in diesem Jahr den Platz mit Singapur getauscht. Für Schweden ging es von Platz fünf hoch auf vier. 2007 belegte das Land dagegen noch Platz 19. Besonders in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung, Management und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist das skandinavische Land unschlagbar. Auch die Produktivität der Firmen und das Finanz-Know-How sind weltspitze.
Der fünfte Platz geht in diesem Jahr an Singapur. Im Vergleich zu 2012 ging es damit einen Platz herunter. Das asiatische Land wird von Unternehmen wegen seiner kompetenten Regierung, der verlässlichen Infrastruktur, dem wirksamen Rechtssystem und dem stabilen politischen System sowie seiner Unternehmerfreundlichkeit geschätzt.
Für Norwegen ging es von Rang acht im Jahr 2012 hoch auf Platz sechs. 2007 belegte das skandinavische Land noch Platz fünf. Nahezu unschlagbar ist Norwegen in den Punkten gesellschaftliche Rahmenbedingung, Produktivität und Effizienz, sowie politischer Stabilität.
Kanada hat sich leicht verschlechtert und rutschte vom sechsten Platz in den Vorjahren auf Rang sieben im aktuellen World Competitiveness Ranking. Das Land gilt wegen seiner Facharbeiter, der politischen Stabilität, dem hohen Bildungslevel, der guten Infrastruktur und dem unternehmerfreundlichen Umfeld als besonders attraktiv für Unternehmen.
Auch die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich verbessert. Von Platz 16 im Jahr 2012 ging es 2013 hoch auf Rang acht. Sie gelten als der Knotenpunkt für Tourismus, Handel und Luftfahrt. Im Ranking punkten die Arabischen Emirate besonders mit den Unternehmenssteuern (Platz eins im weltweiten Vergleich), den Umsatzsteuern (Platz eins), der Einkommenssteuer (Platz eins), den Sozialversicherungsbeiträgen, der Bürokratie und dem Altersdurchschnitt der Gesellschaft. Auch beim Image, der Erfahrung und der Bereitschaft, ausländische Fachkräfte anzuheuern, kann das Land punkten. Mau sieht es dagegen mit der Beschäftigungsrate von Frauen aus.
Deutschland belegte im Jahr 2007 noch Rang 16 in puncto Wettbewerbsfähigkeit. 2012 und 2013 schaffte es die Bundesrepublik jedoch auf Platz neun. Besonders gut steht Deutschland unter anderem bei der Jugendarbeitslosigkeit (weltweit Rang sechs), Export (weltweit Rang drei) und der Diversifizierung der Wirtschaftstätigkeit (Rang zwei) da. Auch bei Ausbildung und Lehre (Platz eins), Fortbildungen (Platz eins), Produktivität der Arbeitskräfte und kleinen und mittelständischen Unternehmen (jeweils Platz eins) macht Deutschland keiner etwas vor. Bei Sozialversicherungsbeiträgen (Rang 575), Arbeitsstunden (Rang 53) oder dem Ausbau von Highspeed-Breitband (Rang 53) kann die BRD noch etwas lernen.
Katar liegt im internationalen Vergleich auf Platz zehn der wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften. Das hat das IMD World Competitiveness Center in seiner aktuellen Vergleichsstudie bekannt gegeben. Gerade die Frauen in Katar sind nur zu einem geringen Teil beschäftigt. Auch bei den Technik-Exporten und dem Ausbau von Breitband-Internet liegt Katar zurück. Dafür spielt das arabische Land bei der Staatsverschuldung, den Steuern und den Sozialversicherungsbeiträgen ganz vorne mit: Platz eins in allen Kategorien. Auch bei der gesamtwirtschaftlichen Produktivität ist Katar einsame Spitze. Im Jahr 2013 muss das Emirat an der Ostküste des persischen Golfs in Bildung investieren und dafür sorgen, dass mehr Menschen in Lohn und Brot kommen.
Für Jean-Claude Michéa ist dieser liberale Kerngedanke aber nicht nur von biblischer Schlichtheit, sondern auch der Quell aller modernen Übel, genauer: für das Mentalitätsregime einer Doktrin, die sich die Diskussion über das "geteilte Werte" und "gute Leben" erspart, um eine Ideologie des Egoismus und der Selbstverwirklichung von der Leine zu lassen, der kalten Berechnung und der Permissivität, der persönlichen Bereicherung und des Massenindividualismus. Es ist eine Doktrin, die paradoxerweise von Links- und Wirtschaftsliberalen geteilt wird, so Michéa, also ausgerechnet von jenen, die sich alltäglich in der politischen Arena kübelweise mit Schmutz überschütten - etwa wenn auf der linksliberalen Seite von der angeblichen Geldgier der Manager und Banker die Rede ist oder auf wirtschaftsliberaler Seite von der Laissez-Faire-Mentalität der 1968er, die angeblich das Wohlstandsfundament des Landes unterhöhlt. In beiden Fällen wird dem Gegner moralisches Fehlverhalten vorgeworfen, eine Erosion der guten Sitten, kurz: Unanständigkeit - obwohl in beiden Fällen, so Michéa, der Absender des Vorwurfs seit jeher ein ideologisches Interesse an der Ausschaltung dessen verfolgt, was "unanständig" genannt werden darf.
Liberalismus verwandelt sich in säkulare Religion
Während der kulturelle Liberalismus der Linken auf die Maximierung der Toleranz, sprich: die restlose Protektion aller individuellen Vorlieben und die unterschiedslose Gleichstellung aller Menschen abzielt, hat der Wirtschaftsliberalismus das Narrativ des harmonischen Marktes entwickelt, auf dem sich individuelle Laster (der Egoismus, die Gewinnsucht) in segensreiche Kollektivphänomene ("Wachstum und Wohlstand"), noch dazu mit pazifistischen Nebeneffekten ("Handel durch Wandel") verwandeln. Michéa führt diese historische Doppelbewegung des Liberalismus - den Gleichschritt von Rechts- und Marktfreiheit - zunächst auf ihren gemeinsamen Ausgangspunkt, die "axiologische Neutralität" des Liberalismus, zurück.
Der radikalen "ethischen Säuberung", der sich beide liberalen Denksysteme im Laufe der Jahrhunderte unterziehen, liege der explizite Verzicht aller normativen Strukturen das menschliche (Zusammen-)Lebens zugrunde: der Verzicht auf alles, was (gemeinsam) sein soll. Aus der Perspektive eines Liberalen, so Michéa, benötige die Moderne nichts weiter als gesetzliche Vorschriften, die den menschlichen Monaden das Recht einräumen, nach ihrer privaten Definition des "guten Lebens" zu leben (Linksliberalismus) und einen gemeinsamen Markt, auf dem die gleichen menschlichen Monaden nach den Regeln des freien Wettbewerbs ungehindert Waren und Dienstleistungen tauschen können (Wirtschaftsliberalismus).
Paradoxerweise - und das ist die erwartbare, aber deshalb nicht witzlose Pointe - führt nun ausgerechnet die "axiologische Neutralität" des Liberalismus dazu, dass er sich seinerseits in eine säkulare Religion verwandelt. Denn der Pessimismus des Liberalen, ihre Selbstauffassung, die Welt vor allen ideologischen Teufeleien beschützen zu müssen, hat eine optimistisch-ideologische Kehrseite: Den Glauben, dass die Mensch-Monade sich kraft seiner Arbeit und technischen Erfindungsgabe zum Herren über die Natur aufschwingen und materiellen Fortschritt ohne Ende produzieren kann. Und dieser Glaube ruht nicht etwa in sich selbst, im Gegenteil: Er muss unter immer neuen Bedingungen und Sichtweisen ausgelegt und bekräftigt werden. In einer Welt, die durch das Schwungrad des Kapitalismus permanent im Wandel begriffen ist, muss der Liberalismus sehr viel Energie aufbringen, um im Alltagsleben der Mensch-Monaden das (egoistische) Verhalten wachzuhalten, das diese Menschen eigentlich naturgemäß an den Tag legen (sollten). Daher das liberale Dauertremolo von Mehrleistung, Selbstverantwortung, Optimierung.
Kurzum, der Liberalismus ist für Michéa eine doktrinäre Weltanschauung, die den Menschen - mit den besten Absichten, versteht sich - eine "Gesellschaft des kleineren Übels" aufzwingt. Darunter versteht Michéa, wie gesagt, eine Gesellschaft, die explizit darauf verzichtet, ihren Mitgliedern den Willen zur moralischen Vervollkommnung abzuverlangen; eine Gesellschaft, die ihre Individuen "von der moralischen Versuchung" abhält, weil sie davon ausgeht, dass die Räder des fortschrittlich Miteinander umso besser ineinander greifen, wenn jedes ihrer Mitglieder davon absieht, jenseits persönlicher Interessen "Arbeit an sich zu leisten" (Bernard Mandeville, Adam Smith). Es versteht sich von selbst, dass die Rationalität einer solchen Gesellschaft zutiefst unsolidarisch, berechnend, prozedural und positivistisch ist. Es ist eine Gesellschaft wie gemacht für den homo oeconomicus, der auch bei Partnerwahl und Familiengründung nicht vergisst, die Opportunitätskosten einzurechnen und auf Humankapital-Renditen zu spekulieren.
Eigeninteresse des Individuums?
Gleichzeitig aber, und hier wird es endgültig interessant, werde "das Recht durch die Wege der liberalen Logik auf noch steilere Abhänge geführt", schreibt Michéa, um vor allem den Linksliberalen ihre Flausen auszutreiben. Denn während die Wirtschaftsfreunde damit beschäftigt seien, jedes moralische Sandkorn im Getriebe der liberalen Maschine zu identifizieren, um es als Hemmnis für die Effizienz des geölten Marktes zu entfernen, seien grünliberale Gleichheitsfreunde in einer Art Parallelbewegung damit beschäftigt, "alle Formen von Diskriminierung und Ausschluss" zu ahnden. In diesem Sinne, so Michéa, seien beide Denkbewegungen weniger zum Denken, vielmehr zur bloßen Bewegung verurteilt: Unendliche Vollendung fände das Projekt einer "Gesellschaft des kleineren Übels" einerseits im grenzenlosen Wachstum - und andererseits in einer Gesellschaft, in der es bis in alle Ewigkeit darum gehen wird, "das Recht aller auf alles" durchzusetzen.
Michéa zieht daraus den Schluss, dass die liberale Gesellschaft nicht nur verlernt hat, über verbindliche Werte, sondern auch ganz buchstäblich über gemeinsame Ziele nachzudenken. Am Anfang des Liberalismus, als er sich noch von traditionellen religiösen und moralischen Quellen nährte, die seine Entstehung begünstigten, stand der gut begründete Verzicht auf eine Definition des "guten Lebens". Heute, nach dem Versiegen der religiösen und moralischen Quellen, die seinen Leerlauf beschleunigen, hat der Liberalismus buchstäblich keine Chance mehr, das menschliche Leben in Bezug auf sein Ende zu begreifen. Der Rest der Menschheitsgeschichte ist stehendes Marschieren, fortschrittsloses Fortschreiten, brummkreiselnde Beschleunigung - eine "merkwürdige Zivilisation", so Michéa, "die als erste der Geschichte ihren Fortschritt auf ein systematisches Misstrauen, die Angst vor dem Tod und die Überzeugung von der Unmöglichkeit des Liebens und Gebens" gegründet hat.
Was aber hält Michéa der "verzweifelten Anthropologie" des Liberalismus entgegen? Was hat er seinem Grundprinzip entgegen zu halten, dem Eigeninteresse des Individuums? Wie überwindet er die Grenze zwischen dem "Reich des kleineres Übels" und der "schönen neuen Welt", also die Grenze zwischen einer Welt voller Menschen "wie sie sind" - und Menschen, "wie sie sein sollen"? Michéa argumentiert vollkommen richtig, dass ein Ideologie gewordener Liberalismus, der kulturelle Differenzen planiert, um seinen Neutralitäts-Wert zu verabsolutieren, diese Grenze nicht mehr markieren kann und daher sehr zu Recht unter Legitimitätsdruck gerate. Doch angesichts der zugleich schmissig geschriebenen wie jederzeit unterhaltsam-weitschweifenden Diagnose fällt der Heilplan von Michéa dann doch etwas dünn aus.
Er bedient sich für seinen Befund - ohne ausdrücklich auf sie Bezug zu nehmen - reichlich bei Karl Polanyi (die These von der "Entbettung" des Marktes aus dem Sozialgefüge der Gesellschaft) und Marcel Mauss (Theorie der Gabe), würzt das Ganze mit Emil Durkheim und George Herbert Mead (die These vom solidarischen Band zwischen den Monaden, ihrer Zwischen-Menschlichkeit) - und mischt reichlich Charles Taylor und Michael Sandel dazu (der anthropologische Vorrang der "ethischen Idee" vor der "neutralen Vernunft"; das antike Tugendideal des "guten Lebens").
Heraus kommt der Gegenentwurf zu einem liberal optimierten Social Engineering, das uns zu merkantil-juristischen Dressurwesen degradiert. Heraus kommen statt dessen Menschen, die sich ihrer Verwurzelung in Traditionen und Kulturen bewusst sind. Die wieder einen Sinn für das Aufeinander-Bezogensein als einer anthropologischen Grundtatsache entwickeln - die darum wissen, dass ein "Einssein mit sich selbst" nur mit Blick auf andere möglich ist. Es sind konservative Menschen, die anständig (zusammen)leben möchten, denen nicht alles egal ist, was um sie herum passiert - Menschen, die Freiheit im Sinne von Charles Taylor als "Praxis steuernder Kontrolle" verstehen, als Fähigkeit, die wir - mit anderen - zu verwirklichen haben.
Dass sich Michéa dabei vor allem auf französische Autoren bezieht und den Faden zuweilen in seitenlangen Anmerkungen verliert - geschenkt. Dieses Buch ist ein fesselnder Vier-Stunden-Roadtrip für Liberale. Und ein Goldschatz für schwarz-grüne Vordenker. Ein schöneres Grundsatzpapier, das gleichermaßen mit der Marktgläubigkeit von CDU-Liberalen und der Permissivitätswut von grünen Fundis abrechnet, ist jedenfalls bisher noch nicht auf dem politischen Markt.
Jean-Claude Michéa, Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft, Matthes & Seitz 2014, 19.90 Euro.