In der Fraktion sitzt sie wie eine Spinne im Netz; geschickt hat sie Kritiker verfangen und Skeptiker eingesponnen, die haben, was ihr fehlt. Helmut Kohl, den sie 1999 ins historische Museum stellte, zählt sie über Kohl-Freund Ronald Pofalla, den wirtschaftspolitischen Sprecher der Fraktion, zu ihren Beratern. Volker Kauder, der ihr 2002 noch die Eignung als Kanzlerkandidatin absprach, hat sie erst zum Geschäftsführer der Fraktion und dann zum Generalsekretär der Partei ernannt. Norbert Lammert, Urgestein der West-CDU, katholischer Schöngeist und moralische Autorität, hat sie mit kühlem Verstand für ihre Sache gewonnen.
Angela Merkel regiert und präsidiert die Union zugleich. Sie weiß, dass sie kein gern gesehener Gast in deutschen Wohnzimmern ist, im Fernsehen, sagt sie, "wirke ich oft zu ernst, fast griesgrämig". Ihre Stärke liegt im persönlichen Kontakt. Kollegen aus der Partei übermittelt sie vor Fernsehsendungen beste Wünsche, Fraktionsmitgliedern gratuliert sie persönlich zum Geburtstag, Kritiker poussiert sie mit offenem Visier, Nörglern schmeichelt sie mit Aufmerksamkeit. Fast jeden Abgeordneten hat Angela Merkel schon einmal mit ihrem Interesse an dessen Meinung überrascht. Ihre Audienzen werden nie sporadisch, immer gezielt, meistens telefonisch gewährt. Aus der Distanz fällt ihr Nähe leichter.
Angela Merkel bewegt sich nicht ohne Ursprung, ohne Ziel; sie bewegt sich aus dem Nichts ins Offene. Deshalb ist sie ihrer Partei immer einen Schritt voraus: weil sie in der beschleunigten Moderne nicht auf absolute Klarheit wartet. Ihr langer Lauf endet nicht irgendwann in einer idealen Zukunft, sondern täglich in einer etwas besseren Gegenwart. So hat Angela Merkel gegen den Willen der Granden ihrer Partei die Kanzlerkandidatur geschafft und zugleich die Union für eine Regierungsübernahme flott gemacht: Indem sie die Union geöffnet hat für eine fragliche Moderne, für eine fragile Zukunft, für eine ungewisse Welt.
Angela Merkel hat mit Helmut Kohl das Patriarchat in der Union abgeschafft, mit Norbert Blüm die Illusionen des Sozialstaats eingeholt, mit Heiner Geißler die Unbedingtheit des katholischen Prinzips überrundet, mit Edmund (und Ehefrau Karin) Stoiber die traditionelle familiäre Gewaltenteilung auf der Strecke gelassen. Die ordentlichen Lebensentwürfe der Merz, Koch, Wulff zwischen Hausmusik und Kindersegen sind in der Merkel-Union weiter möglich, vielleicht die Regel, aber nicht mehr verpflichtend.
Angela Merkel hat die Union säkularisiert, sie zum Abschied vom Prinzipiellen bewegt. Am Beispiel ihrer selbst - zum zweiten Mal verheiratet und kinderlos - zwingt sie die Christdemokraten dazu, auch das Andere gelten zu lassen: die andere Geschichte, die andere Herkunft, die andere Tradition. Die neue Unübersichtlichkeit ist für Angela Merkel etwas, was die CDU lernen muss, wenn sie erfolgreich regieren will. Die Welt ist polyperspektivisch zerborsten, die utopischen Energien haben sich erschöpft. Angela Merkel ist für absolute Attitüden nicht empfänglich; sie erhebt keine perfektionistischen Sollforderungen, glaubt nicht an die Beschwörung universaler Ideen, erhebt keinen Anspruch aufs Vollkommene. Himmlische wie irdische Heilserwartungen sind ihr suspekt.
Diese Welt ist unvollkommen, fehlbar, menschlich, endlich - und ständig im Umbruch. Als Naturwissenschaftlerin kann Angela Merkel sie hervorragend dekonstruieren und in ihre Einzelteile zerlegen. Der individualistische Fortschrittsoptimismus der Liberalen ist Angela Merkel daher so fremd wie der Krisenstolz grüner Politik, die sozialistische Herbeterei einer idealen Zukunft so fern wie die konservative Beschwörung einer großen Vergangenheit. Angela Merkel will Politik machen, hier und heute, prinzipiell richtig, prinzipiell gut. So familiär, subsidiär, liberal und selbstbestimmt wie möglich. So staatlich, institutionell, sozial und ausgleichend wie nötig.
In ihrer Indifferenz ist Angela Merkel Kanzler Gerhard Schröder übrigens ganz ähnlich. Allein ihre Indifferenz ist entschiedener als seine.