Tauchsieder

Taktlose Gehälter?

Berlin, München, Leipzig - wer bietet mehr? Deutschlands Kulturmetropolen befinden sich im Wettstreit um die besten Dirigenten der Welt. Was deren Engagement kostet (und wert ist), bleibt dem Steuerzahler allerdings immer noch verborgen. Eine Anklage.

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Kirill Petrenko wird neuer Chefdirigent der Philharmoniker.

Herbert von Karajan ist und bleibt der größte Noten-Banker aller Zeiten. Der extravagante Dirigent hat die vier größten Musik-Konzerne gleichzeitig bespielt, stand als Chef- und Gastdirigent in Berlin, Wien, London den besten Orchestern der Welt vor, ließ sich zum König der Salzburger Festspiele krönen, versammelte von der Schwarzkopf bis zur Callas die größten Primadonnen der Welt um sich - und handelte mit jedem weiteren Auftritt, für jede weitere Plattenaufnahme und CD-Produktion immer neue, schwindelerregendere Fantasiegagen für sich aus. Als Karajan am 16. Juli 1989 starb, hinterließ er Privatjets, Yachten, Sportwagen - und ein geschätztes Vermögen von mehr als einer halben Milliarde Mark.

Hier schmeißt der Staat das Geld zum Fenster raus
Das Schwarzbuch 2017/18, herausgegeben vom Bund der Steuerzahler Deutschland. Quelle: dpa
Münchner Maximilianeum Quelle: dpa
Schutzwürdige Bäume in Hameln Quelle: dpa
Wohncontainer für Flüchtlinge Quelle: dpa
Bundestag Quelle: dpa
Frankfurt am Main Quelle: dpa
Ehrenbürg-Gymnasium in Forchheim Quelle: dpa

So gesehen, hat Valery Gergiev noch reichlich Luft nach oben. Der neue Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, der am Donnerstag sein Debut mit Gustav Mahlers monströser Auferstehungssinfonie gab, hat russischen Presseberichten zufolge im Jahr 2014 rund 6,2 Millionen Euro eingenommen. Gergiev, Generaldirektor des St. Petersburger Mariinski-Theaters, ein erklärter Freund von Russlands Staatspräsident Vladimir Putin, soll zwei Luxusautos, sechs Wohnungen und 30.000 Quadratmeter Land sein eigen wissen.

Man muss es ihm daher hoch anrechnen, dass er seinen zweiten Chefposten beim London Symphony Orchestra (LSO) aufgegeben, eine seiner sehr zahlreichen Nebentätigkeiten nach München verlegt und sich für ein Kleingeld „sehr viel Zeit für die Philharmoniker reserviert“ hat (Gergiev im Interview mit der SZ). Sehr viel Zeit bedeutet: Gergiev wird mit den Münchnern 45 Konzerte dirigieren. Kleingeld heißt: Gergiev wird für jeden Auftritt 40.000 Euro, vielleicht 50.000, möglicherweise auch mehr kassieren.

Mag sein, dass sich die Pressestelle der Münchner Philharmoniker morgen meldet und meint, die Zahlen seien „aus der Luft gegriffen“. Das Problem ist: Sie sind es wirklich. Niemand weiß genau, wie viel Geld Gergiev für seine Dienste als Taktgeber eines Orchesters erhält, das von der Stadt mit 14 Millionen Euro jährlich bezuschusst wird und gerade mal ein Drittel seines Budgets aus eigenen Einnahmen bestreitet.

Nur so viel ist gewiss: Der Steuerzahler wird jede Eintrittskarte für Mahlers Zweite oder Schostakowitschs Vierte mit knapp 70 Euro bezuschussen. Ganz ähnlich sieht die Lage, jeder weiß es, bei den Berliner Philharmonikern (erwirtschaftet 64 Prozent seines Etats) und beim Gewandhausorchester in Leipzig (52 Prozent) aus, die in Kirill Petrenko und Andris Nelsons soeben zwei Ausnahmekönner verpflichtet haben. Politiker und Musikfreunde überbieten sich förmlich im Wissen darum, in welche ungeahnten Höhen Petrenko, Nelsons und Gergiev ihre Klangkörper führen werden, wie unermesslich viel sie künstlerisch wert sind. Nur was die drei kosten, das weiß niemand.

Eine Millionen Euro jährlich hin oder her

Wie strikt Spitzendirigenten auf ihren Stillhaltevereinbarungen pochen, zeigt das Beispiel Riccardo Chailly. Der derzeitige Chef des Gewandhausorchesters hat vor einigen Jahren damit gedroht, den Stab niederzulegen, falls sein Gehalt publik würde. Damals hatte das sächsische Landesrechnungsamt moniert, dass die Gagen des Maestros bei weitem das Salär des Oberbürgermeisters überträfen.

Auch die Hotel-Suite, die der Italiener bei seinen Gastspielen in Leipzig Berichten lokaler Medien zufolge bewohnt (Listenpreis: 810 Euro), war schon Anlass für Diskussionen. Zu einem Ende der Gagen-Heimlichtuerei aber haben die Debatten nicht geführt. Im Gegenteil. Die Angst davor, dass Chailly Leipzig vorzeitig den Rücken kehren könnte, war seither größer denn je.

Schon einmal, bei der Oper im spanischen Valencia, war Chailly wegen einer Indiskretion aus seinem Vertrag ausgestiegen - eine Million Euro jährlich hin oder her. Nun - Leipzig den Rücken gekehrt hat Chailly jetzt trotzdem. Erst verlängerte er im Sommer 2013 seinen Vertrag bis 2020 („Die Ehe ist glücklich! Ich bin so begeistert in Leipzig wie am ersten Tag!“) - jetzt lässt er sein Gewandhausorchester bereits ab 2016 im Regen stehen, weil es ihn nach Mailand an die Scala und nach Luzern zum Sommerfestival zieht.

Die Heimlichtuerei in Berlin, der mutmaßliche Luxusvertrag von Gergiev in München und die Kapriolen in Leipzig - das alles sind Phänomene eines Musikbetriebs, der sich hinter der Fassade der „Hochkultur“ radikal kommerzialisiert hat und einer Handvoll Weltklasse-Dirigenten eine Verhandlungsposition einräumt, die nur noch vergleichbar ist mit der von herausragenden Fußball-Spielern. Mag sein, dass der belgische Nationalspieler Kevin De Bruyne beim VfL Wolfsburg unter Vertrag steht - er wechselt dennoch zu Manchester City. Mag sein, dass Riccardo Chailly in Leipzig glücklich ist - in Mailand will er sich halt noch ein bisschen glücklicher fühlen.

Neu daran ist nicht, dass Pultstars zum Zwecke der individuellen Profitmaximierung musizieren - Herbert von Karajan, wie gesagt, lässt grüßen, auch Lorin Maazel, der für seine zuweilen genial flüchtigen Dirigate bis zu 120.000 Euro kassiert haben soll. Neu ist auch nicht, dass sich zunehmend viele Spitzendirigenten keinem Orchester mehr verpflichtet, sich an keinen Vertrag gebunden fühlen - und sich für kapellmeisterliche Kärrnerarbeit zu schade sind, die ihnen Zeit raubt fürs lukrative Jet-Set-Geschäft.

"Kultur" ist heutzutage begründungspflichtiger denn je

Neu ist vielmehr, dass Kulturdezernenten und Intendanten in Großstadtkommunen sich einer Handvoll Top-Dirigenten an den Hals werfen (müssen), um sich von ihnen die Bedingungen diktieren zu lassen - während gleichzeitig in Deutschland Orchester fusioniert und abgewickelt werden.

Neu ist zweitens, dass „Kultur“ heutzutage begründungspflichtiger denn je ist - erst recht, seit die Politik unter „Bildung“ nur noch den Aufbau von funktionsintelligentem Humankapital versteht. Es stimmt schon: In Deutschland leben zunehmend viele junge Menschen, die es durchaus nicht als Mangel begreifen, dass sie womöglich keinen einzigen „Don Giovanni“ in ihrem Leben gesehen haben werden.

Umso wichtiger wäre, dass die „kulturelle Fraktion“ endlich raus aus der Defensive kommt und die (vor allem auch nicht-ökonomische!) Bedeutung von „Kultur“ als Medium unterstreicht, durch das Menschen über Generationen hinweg mit sich selbst im Gespräch bleiben. Wo sind die Claus Peymanns, die einem als Politiker getarnten Kultur-Controller sagen: „Wir kriegen von der öffentlichen Hand nicht zu viel, sondern viel zu wenig Geld“? Und umgekehrt: Wo sind die Kulturpolitiker, die sich darauf verständigen, vertragsbrüchigen Maestros mit Allmächtigkeitsgedanken künftig die Tür zu weisen?

Ihren absurdesten Ausdruck nimmt die Ökonomisierung einer auf wenige Pultstars fokussierte Klassik-Branche fraglos in Rankings an, zu deren Anfertigung sich, man glaubt es kaum, auch Musikkritiker herabwürdigen lassen. Das jüngste Ranking, vor gut zwei Wochen veröffentlicht, kommt allen Ernstes zu dem Schluss, dass es sich etwa bei der Berliner Staatskapelle von Daniel Barenboim um das „sechstbeste Orchester der Welt“ (gleichauf mit dem LSO aus London…) und bei Yannick Nezet-Seguin um den „neuntbesten Dirigenten der Welt“ handelt. Tiefer kann Hochkultur nicht fallen.

Bemerkenswert an diesem Ranking ist: Wenn fünf der „Top-10“-Orchester in Deutschland beheimatet sind… Wenn sieben der „Top-10“-Dirigenten in Deutschland ihren künstlerischen Schwerpunkt haben… Wenn viele große deutsche Rundfunkorchester, das Deutsche Symphonie-Orchester, die Münchner Philharmoniker und die Bamberger Symphoniker auf dieser Liste fehlen…

Wenn noch dazu auf dieser Liste nicht die Namen von, sagen wir: Paavo Järvi, Alan Gilbert, Michael Tilson Thomas, Fabio Luisi, Pierre Boulez, Tugan Sokhiev, Ivan Fischer (oder Valery Gergiev!) auftauchen - dann deutet das erstens darauf hin, wie einzigartig breit die Spitze der Musikkultur in Deutschland ist. Und zweitens darauf, dass die Einzigartigkeit von Spitzendirigenten in vielen Fällen so einzigartig gar nicht ist.

Dirigenten als Weltmarke

Natürlich, ein großer Name mit internationaler Reputation ist wertvoll für jede Stadt. Simon Rattle, Valery Gergiev und Andris Nelsons sind nicht nur Publikumsmagneten und kommunale Kulturbotschafter. Sie ziehen auch das Interesse der Musikindustrie auf sich und halten Sponsoren bei der Stange, die sich einem Premiumprodukt verbunden wissen wollen. Sie locken die besten Solisten und Komponisten an, sie produzieren die attraktivsten CDs, sie füllen auch bei lukrativen Auslandstourneen die Säle - was wiederum das Interesse der Musikindustrie und Sponsoren weckt…

Im günstigsten Fall, wie mit Rattle in Berlin und Chailly in Leipzig, können Dirigenten Klangkörper als Weltmarke erhalten, etablieren, weiterentwickeln - als Weltmarken, die Städte profilieren. Für jeden Euro zum Beispiel, den die Stadt Leipzig in sein Gewandhausorchester investiert, hat Intendant Andreas Schulz ausrechnen lassen, fließen 2,43 Euro nach Leipzig zurück (Übernachtungen, Restaurants).

Die besten Rocksongs über Geld
Muse: AnimalsAuf dem jüngsten Album „The 2nd Law“ beschreibt Muse-Sänger und –Komponist Matthew Bellamy mit „Animals“ die Rücksichtslosigkeit des Finanzsystems. Der Text ist eine ironische Aneinanderreihung von Börsenweisheiten, inklusive des berüchtigten „Buy, when blood is on the street.“ Das Lied endet mit der Aufforderung „Kill yourself Come on and do us all a favour“, gefolgt von der Geräuschkulisse des New Yorker Börsenparketts.  Quelle: AP
Pink Floyd: MoneyDas Album “The Dark Side of the Moon” von 1973 ist das erfolgreichste der legendären Art-Rock-Band Pink Floyd (hier Gitarrist Roger Waters bei einem Konzert 2013 in Bukarest). In „Money“, das mit dem rhythmischen Klappern einer Ladenkasse beginnt, werden die Freuden des Reichtums, aber auch seine Vergänglichkeit und die Verderbtheit der Gier besungen: „Money it’s a gas“, das Geld ist ein Gas – und dringt in alle Ritzen der menschlichen Existenz ein. Der Satz ist ein Zitat des französischen  Denkers Gilles Deleuze Quelle: AP
erJanis Joplin: Mercedes BenzDie große und erste weiße Meisterin des rauchigen Blues brachte zum Ausdruck, was Millionen träumen: „Oh Lord, won't you buy me a Mercedes Benz ? My friends all drive Porsches, I must make amends. Worked hard all my lifetime, no help from my friends, So Lord, won't you buy me a Mercedes Benz ?” Deutsche Luxus-Autos waren auch unter amerikanischen Rock-Größen der rebellischen 1960er Jahre stets ein Hit. Quelle: dpa
The Beatles: TaxmanDer von George Harrison (links) komponierte Eröffnungssong des Beatles-Albums „Revolver“ (1966) war eine offene Kritik an den hohen Steuern der damaligen britischen Labour-Regierung unter „Taxman“ Harold Wilson: „If you drive a car, I'll tax the street. If you try to sit, I'll tax your seat. If you get too cold I'll tax the heat. If you take a walk, I'll tax your feet” Das Thema hat natürlich nie an Aktualität verloren, oder wie Harrison einmal sagte: „There’s always a taxman“.   Quelle: dpa
Abba Quelle: dpa
The Smiths: Paint a vulgar pictureDie “Smiths” waren eine der stilbildenden Bands der 1980er Jahre. Ihr Sänger Morrissey (im Bild während eines Konzert im Januar 2013) inszeniert sich bis heute gerne als einsame Künstlernatur, der dem Treiben der Welt distanziert gegenübersteht. In seinem Smiths-Song „Paint a Vulgar Picture“ kritisiert er die Ausbeutung eines toten Sängers durch eine geldhungrige Plattenfirma:  “At the record company meeting. On their hands - a dead star. And oh, the plans they weave. And oh, the sickening greed.” Ja, wenn die krank machende Gier nicht wär! Quelle: AP
bDire Straits: Money for NothingDer größte Hit der Dire Straits von 1985 ist eine ironische Auseinandersetzung mit dem Musik-Geschäft. Er ist aus der Perspektive eine einfachen Menschen gesungen, der sich darüber empört, dass Rockstars „Geld für nichts“ bekommen und „Chicks for free“ obendrein. Komponist und Sänger Mark Knopfler behauptete, das Lied sei entstanden, nachdem er das Gespräch zweier Arbeiter in einem Plattenladen belauscht habe. Quelle: dpa

Auch deshalb ist ein offener Umgang mit den Gehältern von Dirigenten überfällig. Jeder Berliner, Münchner und Leipziger muss wissen, was Simon Rattle, Valery Gergiev und Andris Nelsons ihn an einem Abend kosten - nur so kann er wirklich eventuell bestehende Vorurteile abbauen sich eine valide Meinung darüber bilden, ob die Maestros ihr Geld (für ihn selbst, für den Erhalt der „Kultur“, für die Stadt) tatsächlich wert sind - finanziell, aber auch künstlerisch.

Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob Rattle mit den Berliner Philharmonikern 74 Konzerte (zehn Opernaufführungen inklusive) bestreitet, Gergiev mit den Münchner Philharmonikern hingegen nur 45. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ein Dirigent mit einem Orchester arbeitet oder mit zweien oder dreien, ob er nebenher weitere Verpflichtungen hat - und wie viel Zeit er der Probenarbeit widmet.

Wer etwa weiß, dass, sagen wir: die Sensation eines neuen Strauss- oder Beethoven-Zyklus der Leipziger oder Berliner keine Sensation sein kann, weil den vielbeschäftigten Dirigenten gar keine Zeit zur seriösen Einstudierung des Zyklus bleibt - der wird die ordentlich bezahlten Musiker für ihre Leistung womöglich höher einschätzen als die hochbezahlten Dirigenten.

Auch unter Kulturpolitikern sollte die Einsicht reifen, dass das größte Kulturkapital der Deutschen in seiner weltweit einmaligen Orchesterlandschaft (rund 130 Klangkörper) besteht - und nicht in Dirigenten, die ihnen vorstehen. Diese haben nur deshalb zu tun, weil es es jene gibt - nicht umgekehrt. Diese können nur deshalb Kasse machen, weil die Deutschen sich mit ihrem Kulturbewusstsein jene erhalten. Höchste Zeit also, sich ehrlich zu machen. Ein Dirigent kann durchaus 50.000 subventionierte Euro am Abend wert sein. Aber seinen Wert taxieren lassen - das muss er schon.

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