Es ist der totale Triumph des biedermeierlich-kleinbürgerlich-pseudoliberalen Zeitgeistes. Erst wurden Rotgrüne als staatgläubige Verordnungspolitiker verunglimpft, die mit lauter neuen Gesetzen die Bürokratie blähen, den Standort gefährden und Kunden bevormunden statt an Selbstverpflichtungen der Unternehmen und ein bewusstes Konsumverhalten zu glauben. Dann verlegte sich Rotgrün auf Anreiz- und Symbolpolitik - und wird nun dafür ausgelacht. Allein darüber, dass es sich bei der Polemik gegen die "Weltverbesserer" in Wahrheit um ein Schutzschild gegen die Zumutungen des eigenen Zynismus handelt - darüber redet keiner. Schwarz-Gelb stilisiert die Freiheit des Kantinenbesuchers zu einer Frage der "Freiheit an sich", um sich selbst die Freiheit zu erhalten, vom eigentlichen Skandal abzusehen: von einer Massentiertötung, die Lebewesen von der Geburt bis zum Schlachter rein produktionsprozessual behandelt. Aber geh, alles halb so schlimm. Hauptsache die Wurst bleibt billig.
Der Erfolg der Schwarz-Gelben liegt aber nicht nur im schieren Gebrauch des Plattitüdenliberalismus, sondern auch in der Gewissheit, dass dieser Plattitüdenliberalismus sich gegen alles, was er heute denunziert, in zehn Jahren nicht mehr wenden wird - dann nämlich, wenn sich die Beste aller Welten dank Schwarz-Gelb weiter gedreht haben wird. Speziell die CDU ist ja geradezu definiert als Partei, die der gesellschaftlichen Avantgarde mit zehn Jahren Verspätung hinterherläuft, um sich stets auf der Höhe der gegenwärtigen Mehrheitsmeinung zu befinden. Wir erinnern uns: Das globalisierungskritische Netzwerk Attac hat bereits vor zehn Jahren angemerkt, dass die internationalen Finanzmärkte der Regulierung bedürfen und die elitären Treffen der G-8-Chefs nicht mehr zeitgemäß sind. Damals wurden die Aktivisten von CDU-Politikern als irre Störenfriede abgekanzelt, die nichts von Wirtschaft verstehen. Heute reden Merkel und Schäuble so, als stünden sie Attac vor.
Es ist hier nicht der Platz, um auf all die Versäumnisse hinzuweisen, die sich die Regierung in den vergangenen vier Jahren hat zuschulden kommen lassen, um ihrem armseligen Selbstanspruch zu genügen, der sich vollziehenden Wirklichkeit politisch möglichst wenig ins Rad zu greifen. Ein paar Beispiele müssen daher genügen: Familienministerin Kristina Schröder (CDU) etwa hat die gesetzliche Frauenquote verhindert, die (als Symbol!) seit mindestens zwei Jahrzehnten überfällig ist - und die mit Union und FDP an der Regierungsspitze so lange auf sich warten lassen wird, bis sie tatsächlich überflüssig sein wird. Das Thema Mindestlohn zögern Union und FDP so lange hinaus, bis zuletzt auch der raubeinigste Unternehmer sich dazu bekannt haben wird, dass die Zahlung von sieben Euro die Stunde seine Firma nicht ruinieren werde. Beim Thema Steuer-CDs hat die Regierung juristisch gefrömmelt und kritisiert, dass der Staat (und die SPD) sich zum Hehler mache, statt der flächendeckenden Steuerbetrügerei ein entschlossenes Ende zu bereiten. In Fukushima schließlich musste erst ein Atomkraftwerk explodieren, damit die schwarz-gelben Industriegläubigen nicht mehr das Vater-Unser der Energiewirtschaft nachbeten, demzufolge in Deutschland die Lichter ausgehen, wenn man der Kernkraft den Stecker zieht.
In allen vier Fällen spielte oder spielt Schwarz-Gelb restlos überholte Glaubensgrundsätze (freiwillige Selbstverpflichtung! - Tarifautonomie! - Der Staat ist ein Dieb! - Es gibt kein Restrisiko!) gegen eine sich zunehmend aufdrängende Wirklichkeit aus. Es ist eine Wirklichkeit, die die Regierung aus Prinzip leugnet, um ihren mangelnden Gestaltungsanspruch hinter pseudoliberaler Enthaltungsrhetorik verstecken und ihre "Politik" erfolgreich zum Verschwinden zu bringen - nur um sich, wie gesagt, zehn Jahre später zu ihrem Sachwalter auszurufen. "Starke Wirtschaft", "Solide Finanzen", "Sichere Arbeit" steht auf den Wahlplakaten der CDU - es sind Botschaften aus der Besten aller Welten, die keiner Veränderung bedarf, weil man sich in ihr einrichtet und sich keine Politik zuschulden kommen lässt - solange, bis zuletzt Schwarz-Gelb zur Welt aufschließt und ihre pseudoliberalen Prinzipien gegen neue Weltverbesserungsvorschläge in Stellung bringt.