Teure Rentenpläne unter Beschuss Nahles schreddert Schröders Agenda

Das gigantische Rentenprojekt der Koalition nimmt konkrete Formen an. Die gute Nachricht: Sozialministerin Nahles sagt schneller, als gedacht, wohin die Reise geht. Die schlechte: Es wird den Steuerzahler hart treffen.

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Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles (SPD): Rentenpläne unter Beschuss. Quelle: dpa

Berlin Andrea Nahles drückt aufs Tempo. Das größte Sozialprojekt der Großen Koalition in dieser Legislaturperiode erlaubt keinen Aufschub. Schon ab Juli sollen die vereinbarten Leistungsausweitungen bei der Rente gelten: Die Aufstockung für ältere Mütter, die verbesserte Erwerbsminderungsrente sowie die abschlagsfreie Rente mit 63. Normalerweise gönnt sich eine neue Bundesregierung 100 Tage Schonfrist, bis sie sich in die Karten schauen lässt. Regelmäßig werden die dann angestoßenen Projekte von der kritischen Öffentlichkeit in Augenschein genommen. Sozialministerin Nahles gewährt schon vorher einen Einblick in ihre Arbeit und legt einen Gesetzentwurf vor.

Die gute Nachricht: Während Ursula von der Leyen (CDU) einst zwei Jahre vergeblich an einer Rentenreform gearbeitet hat, weiß Nahles schon nach wenigen Wochen wohin die Reise gehen soll. Die schlechte Nachricht: Das Projekt wird zum Fiasko für Steuer- und Rentenbeitragszahler. Entsprechend heftig fällt die Kritik aus. „Ein starker Ausbau der sozialen Wohltaten bedeutet eher Gegenwind“, sagte der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI), Ulrich Grillo. FDP-Präsidiumsmitglied Volker Wissing warf der Großen Koalition vor, sie lege mit ihrer verantwortungslosen Politik den Grundstein für die Altersarmut künftiger Generation. Der Direktor des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus F. Zimmermann, sieht den hiesigen Wohlstand gefährdet: „Das ist ein großer Schritt rückwärts und wird Deutschland dauerhaft schwächen.“

Die Zahlen, die im Gesetzentwurf zur Finanzierung der Rentenpläne genannt werden, sind mehr als ernüchternd. Die Kosten der Änderungen summieren sich demnach bis 2020 auf Mehrausgaben von etwa 60 Milliarden Euro. Bis zum Jahr 2030 kommen etwa 160 Milliarden Euro zusammen.

Die Nahles-Pläne sehen zudem vor, dass der Zuschuss aus Steuergeldern an die Rentenkasse erst ab 2019 steigen soll. Bis dahin werden die Mehrausgaben etwa für eine höhere Mütterrente demnach aus den Rücklagen der Rentenversicherung und durch den Verzicht auf Beitragssenkungen bezahlt. Der Beitragssatz zur Rentenversicherung soll stabil bei 18,9 Prozent bleiben und erst 2019 auf 19,7 Prozent steigen. Nahles hat den Entwurf am Mittwochabend an alle Bundesministerien zur Ressortabstimmung geschickt. Das Kabinett soll das Gesetz am 29. Januar auf den Weg bringen.

Finanziert wird die Rentenreform überwiegend von den Beitragszahlern, da die Rücklagen der Rentenkasse aufgezehrt werden und auf die in diesem Jahr eigentlich mögliche Senkung des Beitragssatzes verzichtet wird. Aber auch derzeitige und künftige Rentner tragen zur Finanzierung bei: Durch den Verzicht auf Beitragssenkungen und die höheren Rentenausgaben fallen die jährlichen Rentenerhöhungen niedriger aus, wird in der Begründung des Gesetzentwurfs eingeräumt: „Das Sicherungsniveau vor Steuern fällt somit geringer aus.“


„Betrug am Bürger“

Die Schnelligkeit, mit der das Nahles-Ministerium die Pläne konkretisiert hat, macht deutlich, wie ernst es der Koalition mit dem Thema ist. Dass nun wahr werden soll, was auch als Abschied von den Agenda-Reformen des früheren Kanzlers Gerhard Schröder verstanden werden kann, ist für viele – Wirtschaft, Ökonomen und Oppositionspolitiker – nicht nachvollziehbar.

"Ein starker Ausbau der sozialen Wohltaten bedeutet eher Gegenwind", wandte sich der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI), Ulrich Grillo, gegen die Rentenpläne und andere sozialpolitische Vorhaben der Bundesregierung. Genau diesen Weg beschreite aber die neue Regierung in ihrem Koalitionsvertrag. Dagegen müssten Investitionen und eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund stehen.

Die geplante abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren nannte Grillo unverständlich. Wenn Deutschland anderen Euro-Ländern rate, das Rentenalter zu erhöhen, und selbst das Gegenteil tue, koste das Glaubwürdigkeit. Man könne bei Reformen nicht anderen Ländern Wasser predigen und zu Hause Wein trinken. "Wir fordern eine ausgewogenere Balance zwischen Markt und Sozialstaat", sagte Grillo. Die Rentenpläne führten dazu, dass die Beiträge auch der Unternehmen nicht sinken würden, obwohl dies möglich sei. Bei schwächerer Konjunktur sei sogar ein Anstieg möglich.

Auch der Verband der jungen Unternehmer übte heftige Kritik am Rentenkonzept von Arbeitsministerin Andrea Nahles. "Das Aussetzen der Beitragssenkung ist Betrug am Bürger", sagte die Vorsitzende Lencke Wischhusen. Statt die Überschüsse in der Rentenversicherung den Bürgern über eine Senkung zurückzugeben, würden sie für Klientelpolitik ausgegeben.

Der Chef der FDP in Rheinland-Pfalz, Volker Wissing, gab zu bedenken, dass das Guthaben in der Rentenkasse eigentlich die Absicherung der Beschäftigten gegen den demographischen Wandel gewesen sei und dazu hätte dienen können, das gesetzliche Rentensystem demografiefest zu machen. Indem aber SPD und CDU/CSU dieses Geld aber „leichtsinnig“ ausgeben, hätten sie die gesetzliche Rente ihrer Zukunftsfähigkeit beraubt, sagte Wissing Handelsblatt Online. „In Anbetracht der durch die Minizinsen verursachten Krise der privaten Altersvorsorge, hat die Große Koalition mit ihrer verantwortungslosen Politik den Grundstein für die Altersarmut künftiger Generation gelegt“, fügte das FDP-Präsidiumsmitglied hinzu. Das Markenzeichen der Großen Koalition sei damit „die demographische Verantwortungslosigkeit ihrer Politik“.


„Verbrechen an der nächsten Generation“

Der Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), . Zimmermann, sprach von einem schweren Rückschlag für die langfristige Sanierung der Rentenkassen und die Entlastung von Arbeitnehmern und Unternehmen. "Statt die Rentenbeiträge wie sonst möglich senken zu können, werden diese Entlastungen von immerhin gut 30 Milliarden Euro, die Konsum und Arbeitsnachfrage gestärkt hätten, zur Ruhigstellung der Klientel der Großkoalitionäre verpulvert", sagte Zimmermann Handelsblatt Online. Die Union bekomme die Mütterrente und die Sozialdemokraten die Rente mit 63. "Damit wird die jüngere Generation, die das langfristig bezahlen muss, weiter belastet anstatt von einem Teil der wachsenden demographischen Herausforderungen befreit zu werden."

Das sei aber nicht ein einmaliger Einschnitt, sondern eine dauerhafte strukturelle Maßnahme, die nur durch Querfinanzierung aus Steuermitteln getragen werden könne, gab Zimmermann zu bedenken. "Diese Mittel müssen nicht nur woanders im Haushalt gestrichen werden, wenn sie nicht zu Steuererhöhungen führen sollen, sondern sie sind auch eine kalte Rentenreform mit weiteren Schritten auf dem Wege zur staatlichen Einheitsrente", ist sich der Ökonom sicher. "Das ist also ein großer Schritt rückwärts und wird Deutschland dauerhaft schwächen."

Die fünf „Wirtschaftsweisen“ hatten Union und SPD bereits Ende vergangenen Jahres attestiert, auf dem falschen Weg zu sein. In ihrem Jahresgutachten bemängelten sie, dass die aktuelle wirtschaftliche Situation und die relativ gute Position Deutschlands im Vergleich zu den Krisenländern des Euro-Raums „vielfach den Blick auf die großen zukünftigen Herausforderungen“ verstelle. So gingen Maßnahmen, wie etwa die Mütterrente, die Aufstockung von niedrigen Renten oder großzügige Ausnahmen von der Rente mit 67, überwiegend zu Lasten der kommenden Generationen. „Die künftigen Herausforderungen werden sogar um ein Vielfaches schwerer zu bewältigen sein, wenn die Reformen der Agenda 2010 verwässert oder in Teilbereichen gänzlich zurückgenommen werden“, warnten die Ökonomen damals in ihrem Bericht.

Interessanterweise sehen auch Unions-Vertreter die Rentenpläne durchaus kritisch. Anfang Dezember noch nannte der Vorsitzende des Parlamentskreises Mittelstand der Unions-Bundestagsfraktion, Christian von Stetten (CDU), die vereinbarten Rentenversprechen ein „Verbrechen an der nächsten Generation“. Doch die Vorbehalte von Stettens und anderer aus dem Unions-Wirtschaftsflügel verpufften weitgehend.


„Die Rente mit 63 ist fatal“

Nicht ganz so drastisch formuliert Christoph Schmidt, Vorsitzender der Wirtschaftsweisen, seine Einwände. Die Rentenpläne griffen die Demografiefestigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme an, sagte er in einem Interview mit der „Welt“. So würden die Rente mit 63 viele in Anspruch nehmen können, die mit 17, 18 Jahren ihre Berufskarriere starteten. „Das wird viel Geld kosten, und die älteren Arbeitskräfte werden auf dem Arbeitsmarkt fehlen“, konstatierte der Ökonom und fügte hinzu: „Die Rente mit 63 ist daher in doppelter Hinsicht fatal.“

Pikant an den Nahles-Plänen ist, dass sie von Jörg Asmussen federführend ausgearbeitet wurden. Seit 2012 beeinflusste der SPD-Politiker als Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB) die Euro-Rettungspolitik. Nun ist er als Sozialstaatssekretär für die Feinheiten des deutschen Rentenrechts zuständig – und vollzieht in dieser Funktion eine deutliche sozialpolitische Kehrtwende.

Als EZB-Direktor warnte er noch vor einem Zurückdrehen der Rente mit 67. Jetzt ist er aktiv daran beteiligt, diesen zentralen Baustein der Agenda 2010 zu schreddern. Seine frühere Sicht auf die Agenda-Politik formulierte Asmussen in einer Rede beim Jahresempfang des Verbands deutscher Pfandbriefbanken am 29. November 2012:

„Das europäische Sozialmodell muss sich reformieren“, sagte er damals. Und weiter: „Die Zeiten, in denen man Schulden angehäuft hat, um Sozialausgaben zu finanzieren, sind vorbei. In den kommenden Jahrzenten wird es um Schuldenabbau gehen müssen. Wenn wir unseren derzeitigen Lebensstandard halten wollen, müssen wir ihn mit Produktivitätszuwächsen, mehr Innovation und härterer Arbeit erwirtschaften. Dazu gehört für Deutschland ganz konkret, dass die Rente mit 67 nicht in Frage gestellt werden sollte.“ Nun passiert genau das Gegenteil.

FDP-Präsidiumsmitglied Wissing sagte dazu: Egal ob Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihrer Neujahrsansprache oder Staatssekretär Asmussen als EZB-Direktor, in ihren Sonntagsreden warne diese Bundesregierung vor den dramatischen Folgen des demographischen Wandels und tue doch mit ihrer Politik alles um diese zusätzlich zu verschärfen. „Die Große Koalition ist eine Koalition der demographischen Hallodris.“

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