Thilo Sarrazin "Es regiert die Gleichheitsideologie"

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"Dann gehe ich in die Schweiz"

Soziale Gerechtigkeit ist langfristig wahrscheinlich das Thema, über das in den vergangenen 30 Jahren am häufigsten gestritten wurde.

Sarrazin: Jeder von uns – ich auch – empfindet große Einkommensunterschiede als sozial ungerecht. Das möchten die Menschen nicht akzeptieren, sie fühlen sich damit unwohl. Was vielen schwer fällt ist zu erkennen, dass es angeborene Unterschiede in der Begabung und im Temperament gibt. Und die führen auch in der gerechtesten Gesellschaft immer wieder zu ungleichen Ergebnissen. Der eine hat bei allem Bemühen eben die Hauptschule nur knapp geschafft und arbeitet in einem Blumenladen, und der andere ist leitender Ingenieur. Der eine verdient, wenn er eine Stelle hat, 1500 Euro, der andere vielleicht 7000 oder 8000 Euro im Monat. Das wirkt ungerecht, weil sich beide bemüht haben. Natürlich müssen wir da angleichen und etwas umverteilen – deshalb bin ich ja Sozialdemokrat geworden. Aber wir müssen es in dem Bewusstsein tun, dass die Menschen ungleich sind und wir gerade die begabtesten unter ihnen brauchen. Sonst wird das finanziell nicht funktionieren.

 

Wie viel Gleichheit verträgt denn ein ökonomisches System?

Sarrazin: Ich behaupte, nur 10 Prozent der Bevölkerung wären überhaupt in der Lage, ein Mathematikstudium zu schaffen. Ich gehöre übrigens nicht dazu. Ich habe schon mit Mathematik für Volkswirte genug zu kämpfen gehabt. Aber aller technischer Fortschritt hängt von Mathematik ab, also von einer kleinen Minderheit. Diese Knappheit muss bezahlt werden.

 

Das Einkommen kann dann aber auch wieder abkassiert und umverteilt werden.

Sarrazin: So einfach geht das nicht mehr. Bei vielen Freunden und Bekannten beobachte ich, dass sie alle ihre Kinder für eine Zeit ins Ausland schicken, auch damit sie gut Fremdsprachen lernen. An den deutschen Universitäten werden Vorlesungen und Übungen teilweise auf Englisch gehalten. Wir ziehen also eine international bewegliche Elite heran, die jederzeit woanders hingehen kann. Diese Falle hat die deutsche Politik noch gar nicht bemerkt. Wir können unsere Steuern nicht mehr beliebig erhöhen. Schon heute hindert die Steuerlast die jungen Leute daran, Vermögen zu bilden. Wir untergraben damit die Kapitalbildung unserer Leistungsträger. Irgendwann sagen die sich: Dann gehe ich in die Schweiz, da verdiene ich brutto mehr und die Steuern sind auch noch geringer.

 

Wer legt gesellschaftlich fest, wie viel Umverteilung sein darf oder sein muss?

Sarrazin: Es gibt keine objektiven Gerechtigkeitsmaßstäbe. Das ist ein Ergebnis des gesellschaftlichen Diskurses. Wobei man wissen muss: Wenn man es in die eine oder andere Richtung übertreibt, fängt man sich Nachteile ein. Wir hatten eine jahrzehntelange Debatte über die richtige Höhe der Unternehmensbesteuerung. Es war ein Meilenstein, als wir endlich die Definitivbelastung deutscher Unternehmen auf 28,5 Prozent gedrückt haben.

Haben wir zu viel Umverteilung oder ist sie nur falsch konstruiert, bekommen es die Falschen?

Sarrazin: Ich persönlich würde alle leistungs-unabhängigen Einkommenstransfers radikal begrenzen. Natürlich brauchen wir für jeden eine Mindestsicherung, ob man das Hartz IV nennt oder Grundsicherung in der Rente, das ist egal. Aber die Kinderförderung sollten wir komplett umbauen: Nur wer in einer stabilen, formalisierten Beziehung lebt, bekommt den materiellen Vorteil des Ehegattensplittings. Sonst nicht. Den Rest des Geldes sollten wir in Bildungsförderung und Kitas stecken. Es muss unattraktiv sein, Kinder zu bekommen, wenn man nicht weiß, wie man sie ernähren kann. Und es muss unattraktiv sein, Kinder zu bekommen, wenn man nicht in einer stabilen Beziehung lebt. Und für diejenigen, die in einer stabilen Beziehung leben, muss es wesentlich attraktiver sein als heute. Das geht am besten über die Steuer.

Wäre es dann nicht konsequent, ein Familiensplitting einzuführen?

Sarrazin: Ich hätte gar nichts dagegen. Dann wird das Einkommen auf mehr Köpfe verteilt, und je mehr Köpfe, desto stärker sinkt die Steuerlast. So macht es Frankreich, mit dem Ergebnis, dass dort auch die Besserverdienenden relativ viele Kinder bekommen. Bei uns ist aus ideologischen Gründen der Vorteil auf die Höhe des Kindergeldes beschränkt. Dadurch haben wir für alle, die mehr verdienen, null Anreiz, Kinder zu bekommen. Da sind wir in einem ideologischen Grabenkampf. Für mich ist es ein Unterschied, ob der Staat sagt: Du musst weniger Steuern zahlen, wenn Du Kinder hast – dann lässt er mir das Geld für meine eigene Entscheidung. Oder ob der Staat sagt: Du bekommst Geld, weil Du Kinder bekommst. Dann geht es um Geld, das ich nie erwirtschaftet habe. Klar ist, dass die weniger Erfolgreichen und Gebildeten überdurchschnittlich viele Kinder bekommen, wenn der Sozialstaat Kinder höher prämiert, als man für die rein physische Ernährung braucht. Aber wenn man das diskutiert, wird man hart attackiert.

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