Thilo Sarrazin "Es regiert die Gleichheitsideologie"

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Man muss die Schizophrenie der Bürger sehen

Thilo Sarrazin und Sahra Wagenknecht streiten über die Euro-Krise, die Verantwortung der Banken - und wie es mit Griechenland und Spanien weitergeht.
von Anne Kunz, Tim Rahmann, Roland Tichy

Derzeit erleidet die Bundesregierung ein Trommelfeuer der Kritik wegen ihrer Rentenpolitik. Finden Sie das gerecht?

Sarrazin: Der Aufschrei kam spät. Als die Wahlprogramme geschrieben und diskutiert wurden, habe ich davon nicht viel gelesen und gehört. Das ist sehr unkritisch begleitet worden.

 

Es konnte ja keiner ahnen, dass Wahlprogramme nach der Wahl auch umgesetzt werden.

Sarrazin: Man muss bei aller Kritik auch die Schizophrenie unserer Bürger sehen. Zum einen ist der Anteil der Wähler, die Rente beziehen oder kurz davor stehen, schon bei über 40 Prozent. Deshalb befürwortet die Mehrheit der Bürger die aktuellen Rentenpläne. Aber gleichzeitig sagt eine Mehrheit: Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme wird immer unsicherer – was auch stimmt. Das Verhältnis von jungen Beitragszahlern zu Rentnern verschiebt sich immer weiter. Dazu muss man nicht viel Mathematik können.

 

Ist das der Sieg des Egoismus?

Sarrazin. Nicht nur. Wer eine Familie hat, denkt an die Zukunft, an die Kinder und Enkel. Da reicht der Horizont bis 2070 oder gar bis 2100. Wenn aber ein immer größerer Teil der Menschen keine Kinder hat, schrumpft das Interesse an der Zukunft, oder es wendet sich vom Konkreten ins Abstrakte. Das ist besonders absurd. Dann denkt man nicht darüber nach, ob es der nächsten Generation in Deutschland gut gehen kann, sondern wie es den Elefanten in der Serengeti geht, oder wie inhuman es ist, Giraffen im Kopenhagener Zoo totzuschießen.

 

Zurück zur Rente: Ist die Rente mit 63 gerecht? Die Bundesregierung hat den Slogan erfunden: Nicht geschenkt, sondern verdient.

Sarrazin: Die ganz großen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen waren immer jene, wo jemand glaubte, es gebe eine allgemeine Formel für Gerechtigkeit. Kenneth Arrow hat mit dem Arrow-Paradoxon mathematisch nachgewiesen, dass es unter realistischen Bedingungen nicht möglich ist, eine gesamtgesellschaftlich logisch konsistente Präferenzfunktion zu finden. Aber nur wenn es diese gäbe, könnte ich den Schaden des einen mit dem Nutzen des anderen vergleichen und ein gesamtgesellschaftliches Optimum finden, ähnlich dem Pareto-Optimum. Das geht aber nicht. Also gibt es immer ein Stück weit Wertung und Willkür.

Also kann die Regierung frei schalten und walten?

Sarrazin: Natürlich kann man sagen: Es ist ungerecht, dass Mütter, die Kinder nach dem Jahr 1992 geboren haben, begünstigt wurden und die anderen nicht – so ist ja bisher die Gesetzeslage. Es ist aber auch ungerecht, dass ein hart arbeitender Mensch, der 1955 in Pension ging, nur noch sieben Jahre lebte und in heutiger Kaufkraft eine schmähliche Rente von 600 Euro bekam, während ein heutiger Pensionist noch 15 Jahre lebt und eine doppelt so hohe Rente kassiert. Die Welt ist überhaupt voller Ungerechtigkeiten. Es ist ungerecht, dass mein erstes Buch 1,4 Millionen Mal verkauft wurde, während wissenschaftlich wesentlich bessere Bücher, die vielleicht auch einen höheren langfristigen Wert haben, bloß 3000 Mal verkauft wurden. Natürlich ist das ungerecht. Alles ist ungerecht. Deshalb muss man die Welt unter dem Aspekt pragmatischer Funktionalität einrichten.

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