Trotz Rücktrittsgerüchten Sigmar Gabriel probt für die Kanzlerkandidatur

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Sigmar Gabriel sieht Schulen als "Kathedralen des 21. Jahrhunderts"


Und der Parteivorsitzende? Muss andauernd Rücktrittsgerüchte austreten, wird auf dem Parteitag abgestraft, gilt sogar als gescheiterter Kanzlerkandidat, bevor er überhaupt als solcher angetreten ist.

Man bekommt schon fast Mitleid mit der SPD. Und mit Gabriel.

In der vergangenen Woche hatte ihn eine Gürtelrose außer Gefecht gesetzt. Eine wichtige Iran-Reise als Wirtschaftsminister musste er absagen und einige andere Termine noch dazu. Das im Verbund mit neuen, fürchterlichen Wahl-Umfragen reichte schon, um eine neue mediale "Tritt-Gabriel-Zurück"-Welle durch das Land zu schicken. Die wievielte?

An diesem Montag in Berlin, bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach der Zwangspause, geht Gabriel mit keiner Silbe auf den Irrsinn der jüngsten Tage ein. Stattdessen weitet er seine auf 20 Minuten angesetzte Begrüßung zum Gerechtigkeitskongress auf über 40 Minuten aus und liefert dabei eine Art sozialdemokratische Grundsatzrede. Ganz ohne lautes Parteitags-Pathos, dafür mit ernster Leidenschaft, skizziert Gabriel die Grundzüge eines künftigen Wahlprogramms, ohne es so zu nennen. Und auch dies sagt er nicht, obwohl er es ausstrahlt: Dass er der Kandidat für dieses Programm sein wird.

SPD verliert das große Ganze aus den Augen

Dabei fällt kaum ein Wort so häufig wie dieses: Freiheit. Die SPD sei immer schon „Teil der großen Freiheits- und Gerechtigkeitsbewegungen“ gewesen, sagt Gabriel. Immer sei es die Idee der Sozialdemokratie gewesen, „Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben zu ermöglichen“. Der SPD-Chef bekräftigt auch noch einmal seinen Anspruch, dem „Kampf um die Mitte neu aufzunehmen“ und die „Interessen der arbeitenden Mitte im Blick zu behalten“.


Gabriel, der vermeintlich schon Abgetretene, schlägt unüberhörbar Pflöcke für das künftige Wahlprogramm ein: eine Bürgerkrankenversicherung für alle, ein Aus für die Abgeltungssteuer bei Kapitalerträge, Milliarden-Investitionen in Schulen („Wir sollten sie zu Kathedralen des 21. Jahrhunderts machen“), Rentenpolitik. „Zuerst muss es um Bildung, Arbeit, Wirtschaft gehen.“

Vor allem aber geht es in seiner Rede viel um die Partei selbst. Mindestlohn, Rente mit 63, Frauenquote und Mietpreisbremse seien zwar, witzelt Gabriel, die „schöne Bilanz einer rot-grünen Regierung“. Aber angesichts vieler kleiner Schritte drohe der SPD das große Ganze aus den Augen zu geraten. Die Sozialdemokratie wirke gerade nicht wie eine dynamische reformerische Kraft, sondern eher wie „eine ermüdete Partei im Hamsterrad“. Ohne Zuversicht, ohne Vision, ohne Ausstrahlung.

Dann hat Susanne Neumann, die Putzfrau, ihren Auftritt und zeigt: All das gilt auch für Gabriel selbst. Eine Rede allein ändert daran wenig.

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