„Das Bild, das es nicht geben sollte“. Das ist der Titel eines Vorabdrucks eines demnächst erscheinenden Buches des Journalisten Robin Alexander in der Welt am Sonntag. Dazu passenderweise eine Illustration, die eben jenes kontrafaktische Bild zeigt: Deutsche Polizisten sperren die deutsche Grenze ab und weisen Einwanderungswillige und Flüchtlinge ab.
Alexander, Kanzleramtskorrespondent der Welt-Gruppe, hat in bemerkenswerter Weise recherchiert, was im September 2015 in der Bundesregierung vor sich ging. Das Ergebnis ist erschütternd. Die Bundesregierung war demnach eigentlich überzeugt, dass man den - spätestens seit dem 4. September - völlig aus dem Ruder gelaufenen Zustrom ein Ende bereiten müsse. Die Minister (einschließlich derer der SPD) und die Kanzlerin hatten sich grundsätzlich einverstanden erklärt. Polizei und Behörden standen am 12. September zum Einsatz bereit.
Dass es dazu nicht kam, ist bekannt. Nicht der deutsche Staat, sondern die kleinen Durchgangsländer auf dem Balkan beendeten, allerdings erst einige Monate später, durch Grenzsperrungen die unkontrollierte Zuwanderung nach Deutschland– und wurden von Berlin dafür auch noch kritisiert.
Wann sind türkische Politiker in Deutschland aufgetreten?
Ministerpräsident Erdogan warnt die Türken in Deutschland vor zu viel Anpassung. „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sagt er vor etwa 16 000 Anhängern in Köln.
Bei seinem Auftritt vor rund 10 000 Menschen in Düsseldorf fordert Erdogan seine Landsleute zwar auf, sich zu integrieren, lehnt aber erneut eine völlige Anpassung ab: „Unsere Kinder müssen Deutsch lernen, aber sie müssen erst Türkisch lernen.“
Erdogan wirbt auf einer Veranstaltung unter dem Motto „Berlin trifft den großen Meister“ vor etwa 4000 Zuhörern um Stimmen für die bevorstehende Direktwahl des türkischen Präsidenten.
Nach dem Grubenunglück im türkischen Soma kritisiert Erdogan vor etwa 15 000 Anhängern in Köln die Berichterstattung in Deutschland. Erneut wirbt er für die Präsidentenwahl. Zur selben Stunde ziehen 45 000 Gegendemonstranten durch die Innenstadt.
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ruft in Berlin vor etwa 3000 Anhängern der AKP-Partei zu mehr Entschlossenheit im Kampf gegen Rassismus auf.
Im Vorfeld der Parlamentswahl in der Türkei fordert Staatschef Erdogan vor etwa 14 000 Anhängern in Karlsruhe, dass sich Menschen mit türkischem Migrationshintergrund integrieren, dabei aber Werte, Religion und Sprache ihrer Heimat bewahren.
Gut zwei Wochen nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei spricht Sportminister Akif Cagatay Kilic in Köln auf einer Pro-Erdogan-Demonstration vor bis zu 40 000 Menschen. Eine Live-Zuschaltung des Präsidenten auf Großleinwand wurde angesichts der aufgeheizten Stimmung zuvor verboten.
Ministerpräsident Binali Yildirim wirbt vor rund 10 000 Menschen in Oberhausen für die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei. Am Referendum im April können sich auch rund 1,4 Millionen wahlberechtigte Türken in Deutschland beteiligen.
Aus Sicherheitsgründen verweigert die Stadt Gaggenau dem türkischen Justizminister Bekir Bozdag einen Wahlkampfauftritt. Die Stadt Köln lehnt eine Anfrage für einen Auftritt von Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci ab. Tags darauf platzt auch ein Auftritt Zeybekcis in Frechen bei Köln.
Wie Alexander zeigt, war es letztlich nichts anderes als die Feigheit der deutschen Entscheidungsträger in Kabinett und Kanzleramt, die dazu führte, dass Deutschland nicht eingreifend handelte, sondern die Zuwanderung zum Integrationsmanagement umdefinierte. In dem wohl entscheidenden Moment am 12. September fragte die Kanzlerin, was passiert, „wenn sich die Migranten nicht zurückweisen lassen“. Und dann zweifeln ein paar Juristen des Innenministeriums noch, ob pauschale Zurückweisungen rechtlich zulässig seien.
Die Furcht vor dem Bild deutscher Polizeibeamter beim Einsatz und die Furcht vor deutschen Richtern genügten also, um die gesamte Bundesregierung politisch in die Flucht zu schlagen. „Es findet sich in der entscheidenden Stunde schlicht niemand, der die Verantwortung für die Schließung übernehmen will“, schreibt Alexander.
Das komplette Buch erscheint am nächsten Montag unter dem Titel „Die Getriebenen“. Man kann wohl davon ausgehen, dass es auch in Moskau und Ankara und nicht nur dort gelesen wird – falls deren Dienste die Informationen nicht ohnehin längst selbst hatten. Die Regierungen dort und alle Welt wussten auch ohne die Details aus jenen Sitzungen und Telefonaten das allzu Offensichtliche: Dass Deutschland von Getriebenen regiert wird, die im entscheidenden Moment kneifen, und ihre Verantwortungsscheu nachträglich zur humanitären Tat verklären.
Türkisch-nationalistischer Eifer
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat daraus längst die Konsequenzen gezogen. Er weiß, dass er der deutschen Bundesregierung völlig nach Belieben auf der Nase herumtanzen kann. In der Welt des Vorderen Orient hat man einen guten Riecher für die Schwäche von Politikern. Und man pflegt diese erbarmungslos zur eigenen Stärke zu machen. Seinen von türkisch-nationalistischem Eifer geplagten Anhängern zuhause und in Deutschland selbst bietet Erdoğan daher ein Crescendo der hanebüchensten Beleidigungen gegen den Staat, der den seinen seit Jahrzehnten mit Milliarden-Zahlungen unterstützt und Millionen von Türken eine neue und offensichtlich bessere Heimat bieten kann als er selbst.
Ob in Duisburg-Marxloh oder in Istanbul kann er sich daher so präsentieren, wie es ihm gefällt: Als „Reis“ (so der Titel eines aktuellen türkischen Propaganda-Films, der auch in deutschen Kinos läuft), als Chef also, der die Seinen beschirmt und die Feinde vor sich hertreibt.
Zitate von Deniz Yücel
„Die AKP von heute ist kaum mehr als Erdogans Privateigentum. Dass er es geschafft hat, seine Partei derart unter seine Kontrolle zu bringen, liegt am Parteienrecht […], das jeden Parteichef zu einem König macht. Und es liegt am System von Begünstigungen und ökonomischen Abhängigkeiten, das er erschaffen hat und schließlich an seiner Politik der Polarisierung.“
„Nur klingt das Wort von der ‚Demokratie‘ in der Türkei der Gegenwart immer fremder. Welche demokratischen Rechte kann es für die Kurden in Tayyipistan geben? Um welche Demokratisierung kann es gehen in einem Land, in dem parallel drei Prozesse stattfinden – die Islamisierung der Gesellschaft, die Autoritarisierung des Staates und die Entfaltung eines entfesselten Kapitalismus.“
„Niemand in der Türkei, der alle Tassen im Schrank hat, ist dagegen, diesen Krieg [zwischen der türkischen Regierung und der PKK, Anmerkung der Redaktion] endlich zu beenden. Aber mehr und mehr linke und liberale Oppositionelle sehen diesen Aussöhnungsprozess inzwischen kritisch – nicht weil sie ihn grundsätzlich ablehnen, sondern der Regierung wie der PKK vorwerfen, diesen Prozess nicht transparent zu gestalten.“
„‚Eine Tonleiter umfasst sieben Töne. Die Frage, welcher der Töne ,besserʻ sei: Do, Re oder Mi, ist eine unsinnige Frage. Der Musikant muss aber wissen, wann und auf welche Taste er zu schlagen hat.ʻ Dieses in einem anderen Zusammenhang gesagte Wort von Trotzki habe ich stets für eine gute Maxime beim Schreiben und Blattmachen gehalten.“
„So gibt es einige wenige Texte, von denen ich wünschte, ich hätte sie geschrieben. Und es gibt einige Texte und Formulierungen, die ich besser nicht geschrieben hätte.“
Während der Bundespräsident und ein großer Teil der deutschen Spitzenpolitiker ihre eigene Inkonsequenz in der Frage der Propaganda-Auftritte von Erdoğan und seinen Helfershelfern als Zeichen der Stärke der Meinungsfreiheit schönzureden versuchen, zeigt Erdoğan, was für ihn entscheidend ist: „Wenn ich will, komme ich morgen nach Deutschland“, trompetet er in die Welt.
Die Anspielung ist deutlich: Die Bundesregierung hat schließlich ihre Skrupel vor der Abweisung unerwünschter Personen vor anderthalb Jahren überdeutlich offengelegt und diese Kompetenz anderen, vor allem Erdoğan selbst, übertragen.
Für Deutschland stellen sich mittlerweile fatale Folgefragen: Wenn also Meinungs- und Einreisefreiheit für jedes ausländische Staatsoberhaupt oder Regierungsmitglied, so undemokratisch es auch sei, gilt, was ist dann eigentlich mit Putin? Darf der vor der nächsten Duma-Wahl 2019 auch vor Landsleuten in Berlin auftreten?
Und warum sollen dann nicht auch die Mullahs unter in Deutschland lebenden Iranern und die Saudis unter allen in Deutschland lebenden Sunniten ihre „Meinungen“ offen propagieren dürfen? Nun ja, letztere zumindest tun es ja auch fleißig in den von ihnen finanzierten Moscheen – wenn auch weniger bombastisch als Erdoğan und seine Helfershelfer.
Tatsächlich vermitteln die deutschen Behörden, die Zivilgesellschaft und vor allem das Gros der politischen Verantwortungsträger Erdoğan und anderen Propagandisten antiwestlicher, undemokratischer Ideologien in Deutschland eben gerade keinen eindrucksvollen Beweis für das, was Meinungsfreiheit bedeutet, sondern vielmehr einen Beleg für die fatale Unentschlossenheit Deutschlands, die Bedingungen dieser Freiheit zu verteidigen. Deutsche Politiker und andere selbst erklärte Zivil-Couragierte zeigen sich stets lautstark gegen Feinde, die ihnen nicht wirklich gefährlich werden können und keine Machtmittel besitzen.
Wenn es wirklich darum geht, Mut und Standhaftigkeit zu beweisen, Verantwortung zu übernehmen, also persönliche Risiken einzugehen, sieht es leider anders aus. Von dem „Mut“, den der künftige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach seiner Wahl in der Bundesversammlung einforderte, ist nicht viel zu spüren. Bei Steinmeier selbst auch nicht. Wenn der deutsche Staat in der ungemütlicher werdenden Welt der Wirklichkeit nicht zur Beute werden will, muss sich das unbedingt ändern.