Tunesischer Premier bei Merkel Die doppelte Ohnmacht der Flüchtlingspolitik

Der Premierminister Tunesiens, Youssef Chahed, besucht die Bundeskanzlerin in Berlin. In Flüchtlingsfragen ist beiden Regierungschefs ihre Hilfslosigkeit anzumerken. Das birgt Gefahren.

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Lächeln nur für die Fotografen: Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Tunesiens Ministerpräsident Youssef Chahed. Quelle: dpa

Will man den Zwiespalt der Flüchtlingspolitik – nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und sogar vor seinen Grenzen – in ein Bild fassen, dieser Dienstagmittag in Berlin bietet sich an. Da stand Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Kanzleramt neben dem tunesischen Regierungschef Youssef Chahed.

Für Merkel war es schwieriger Termin, immerhin stammt Anis Amri aus Tunesien, der im Dezember zwölf Menschen auf einem Berliner Weihnachtsmarkt tötete und 50 zum Teil schwer verletzte. Amri hätte ausreisen müssen, doch konnte nicht in das nordafrikanische Land abgeschoben werden, weil seine Papiere fehlten. Sie kamen erst kurz nach der Bluttat in Deutschland an.

Damals sprachen böse Stimmen von „Merkels Toten“, weil die nicht hart genug durchgriffen hatte bei Abschiebungen in das Land. Deswegen musste die Kanzlerin gegenüber diesem Besucher aus Tunesien zumindest offiziell auf mehr Härte bei Abschiebungen in sein Land drängen.

Die größten Krisenherde der Welt
SyrienDer Syrien-Krieg ist der wohl schlimmste Konflikt der Gegenwart. Eine friedliche Lösung ist noch nicht in Sicht. Die Unruhen haben im Frühjahr 2011 mit Protesten gegen den Staatspräsidenten Assad begonnen. Die zunächst friedlichen Demonstranten wehrten sich gegen die Unterdrückung durch das Regime und forderten mehr Freiheit. Seitdem kämpfen Anhänger der Regierung, die Opposition und auch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ um die Macht im Land. Mittlerweile sind bei dem Konflikt schon mehr als 250.000 Menschen ums Leben gekommen. Knapp zwölf Millionen Menschen haben ihr Zuhause verloren. Quelle: dpa
LibyenDie Einheitsregierung des Landes kontrolliert nur einen Bruchteil der mehr als 1600 Kilometer langen Küste Libyens. Faktisch konnte Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch in dem knappen Jahr, das er nun in Tripolis regiert, seine Macht kaum über die Grenzen der Hauptstadt ausweiten. Und selbst dort macht ihm eine Gegenregierung das Leben schwer. Viele Flüchtlinge starten von Libyen aus über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa. Im vergangenen Jahr schafften es mehr als 181.000 Menschen über diese Route in die EU. Die Bedingungen in manchen Lagern und teils auch im Land insgesamt schätzen internationale Beobachter als erbärmlich ein. Natalia Alonso von der Hilfsorganisation Oxfam spricht von „entsetzlichen Misshandlungen“: „Menschen, denen es gelang, dieser Hölle zu entkommen, berichten regelmäßig von traumatisierender Gewalt, die sie dort erfahren haben, einschließlich Hunger, Schläge und Verbrennungen.“ Quelle: dpa
AfghanistanIm Jahr 2001 sind die USA in das Land einmarschiert, um das Terrornetzwerk Al-Kaida auszulöschen und die Taliban von der Macht zu vertreiben. Doch die beiden Gruppen töten weiter. Afghanistan steckt immer noch tief in der Krise. Mit rund 11.500 Toten und Verletzten hat die Zahl der zivilen Opfer in Afghanistan im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand erreicht. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind 3498 Zivilisten getötet und 7920 verletzt worden. Das sind etwas mehr als im Vorjahr. Unter anderem haben die Anschläge der Extremistenmiliz Islamischer Staat (IS) deutlich zugenommen: Die Opferzahl durch IS-Angriffe hat sich im Vergleich zum Vorjahr verzehnfacht. Insgesamt gingen 61 Prozent der zivilen Opfer den Vereinten Nationen (UN) zufolge auf regierungsfeindliche Gruppen, wie die radikalislamischen Taliban und den IS zurück. Laut UN gab es zunehmend Selbstmordattentate etwa in Moscheen. Quelle: AP
NigeriaDie Islamistengruppe Boko Haram sorgt in Nigeria seit dem Jahr 2011 für Terror. Ihr Ziel ist es, einen eigenen Islamischen Staat zu gründen, dazu ermordet sie Christen und Muslime. Militärisch hat Nigeria die Boko Haram zurückgedrängt. Doch die sunnitschen Extremisten führen immer noch Anschläge im Nordosten des Landes aus. Mehr als zwei Millionen Nigerianer sind vor der Gewalt geflohen und leben in Flüchtlingslagern, wie zum Beispiel hier in Maiduguri. Im Nordosten des Landes sind den Vereinten Nationen zufolge fünf Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, rund zwei Millionen von ihnen gelten bereits als mangelernährt. Quelle: dpa
IrakDie Terrormiliz Islamischer (IS) Staat hat immer noch Teile des Irak unter ihrer Kontrolle. Die Befreiung des Landes vom IS ist laut dem dortigen UN-Gesandten Jan Kubis allerdings nicht mehr weit entfernt. Militäreinsätze gegen den IS würden „in der eher nahen absehbaren Zukunft“ zu einem Ende kommen, sagte Kubis vor dem Weltsicherheitsrat in New York. Die Tage der Terrororganisation seien gezählt. Das Land ist seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 destabilisiert. Die Vereinten Nationen schätzen, dass alleine im vergangenen Jahr knapp 7000 Zivilisten durch den Krieg ums Leben gekommen sind. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht. Quelle: dpa
SüdsudanDie jüngste Nation der Welt steht auf der Kippe. Das Land stürzte Ende 2013 in einen blutigen Bürgerkrieg. Auf der einen Seite stehen die Anhänger von Präsident Salva Kiir, auf der anderen die seines früheren Stellvertreters Riek Machar. Der Streit hat auch eine ethnische Komponente. Die beiden Männer gehören den beiden größten Volkgruppen des Landes, den Dinka und den Nuer, an. Die Vereinten Nationen warnen vor einem Völkermord. Etwa 13.000 Blauhelmsoldaten bemühen sich um eine Stabilisierung des ostafrikanischen Landes, die Entsendung von weiteren 4000 ist schon beschlossen. Der Ende 2013 ausgebrochene Konflikt hat Zehntausende Menschenleben gefordert; knapp drei Millionen Menschen sind auf der Flucht vor der Gewalt. Nach UN-Angaben haben rund 4,8 Millionen Menschen - also etwa jeder dritte Südsudanese - nicht genug zu essen. Quelle: dpa
SomaliaSeit 1991 steckt Somalia scheinbar in einem Kreislauf aus Gewalt, Flucht und Hunger. Seit dem Sturz des Machthabers Siad Barre gibt es in dem Land am Horn von Afrika keine funktionierende Regierung und es herrscht Bürgerkrieg. Die islamistische Terrororganisation Al-Shabaab hat große Teile Somalias unter Kontrolle und will in dem Land einen sogenannten Gottesstaat errichten. Trotz einer zum Großteil von der EU finanzierten und rund 20.000 Mann starken Friedenstruppe der Afrikanischen Union sind Frieden und Stabilität noch nicht in Sicht. Al Shabaab greift auch immer wieder Ziele im benachbarten Kenia an. Quelle: dpa

Und Chahed? Der ist natürlich auch Politiker. Und sein Land hat schon mit Sicherheitsproblemen zu kämpfen, etwa weil Tunesien die Grenze für libysche Flüchtlinge geöffnet hat. Damit reisten viele Söldner und Terroristen ein. In den Augen zahlreicher Tunesier ist jeder Rückkehrer in das Land ein potenzieller Terrorist, dem sogar die Staatsbürgerschaft am besten aberkannt werden sollte. 

Daher ist beim gemeinsamen Auftritt von Merkel und Chahed die doppelte Hilflosigkeit beinahe mit Händen zu greifen. Zwar kündigte die Kanzlerin Verhandlungen über eine stärkere deutsche Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr von Flüchtlingen nach Tunesien an. Denkbar seien etwa Bildungsangebote, so Merkel, ebenso wie Geldspritzen für Unternehmensgründungen von Tunesien-Rückkehrern.

Darüber soll nun auf Ebene der Fachminister beraten werden. Zudem möchte Merkel schon im Frühjahr persönlich nach Tunesien reisen. Schließlich steht auch immer noch zur Debatte, ob die deutsche Regierung mit dem Land ein Flüchtlingsabkommen wie mit der Türkei abschließen könne. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte darüber laut nachgedacht, SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann ebenfalls.

Doch dagegen regt sich heftiger Widerstand der deutschen Opposition. Vor dem Treffen der beiden Regierungschefs hatten Grüne und Linke vor einem solchen Flüchtlingsabkommen gewarnt. "Angela Merkel darf mit Tunesien nicht den Fehler wiederholen, den sie im Umgang mit (dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip) Erdogan gemacht hat, und durch einen schmutzigen Flüchtlingsdeal das Land von westlicher Kritik abschirmen", sagte die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Linken-Chefin Katja Kipping mahnte, Merkel müsse "von jeglichen Plänen Abstand nehmen, in Tunesien Flüchtlingslager einzurichten.“

Aber auch Besucher Chahed hatte alle deutschen Überlegungen zurückgewiesen, in seinem Land Auffanglager für Flüchtlinge einzurichten. Er weiß, wie fragil dort der öffentliche Frieden ist. Vor allem junge Männer, denen die arabische Revolution bürgerliche Freiheiten, aber bis heute keine bezahlte Arbeit einbrachte, sind für radikales Gedankengut anfällig.

Wie das BAMF die Identität von Flüchtlingen klärt

Das ist eine gemeinsame Gefahr. Denn was wäre, wenn ein Land wie Tunesien kollabierte? Dann könnten sich weitere Millionen Menschen auf den Weg gen Europa machen, warnt etwa Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU). Ihm schwebt eine Art Afrika-Plan vor, vergleichbar mit dem Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch dagegen sträubt sich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), schließlich würde so ein Plan wohl Milliarden Euro verschlingen.

Im Anschluss an das Treffen wollte Merkel übrigens gemeinsam mit Chahed den Ort des Terroranschlags vom Dezember in Berlin besuchen. Zumindest auf die Trauer kann man sich einigen.

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