Übergriffe in Köln Am Bahnhof tobt der Mob und nebenan stehen Gefängniszellen leer

Die Anhörung des NRW-Innenministers Ralf Jäger offenbart, dass in der Kölner Silvesternacht zu einem umfassenden Organisationsversagen der Polizeispitze kam.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
In der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof Quelle: dpa

Ob NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) die unglaublichen Geschehnisse in der Kölner Silvesternacht politisch übersteht, werden erst die nächsten Wochen zeigen. Nach seinen umfassenden Äußerungen vor dem Düsseldorfer Innenausschuss ist nun aber zumindest klar, was die Kölner Polizei tatsächlich tat, während auf dem Bahnhofsvorplatz dutzende Täter über Stunden mehr oder weniger ungestört Frauen sexuell belästigten. So ungeheuerlich klingen die Fehler, die hier begangen wurden, dass zwischendurch sogar die Opposition gebannt zuhört, anstatt sich für den nächsten Zwischenruf bereit zu halten. Schon Jägers erster Satz gibt dabei den Ton vor. „Das Bild, das die Kölner Polizei in der Silvesternacht abgegeben hat, ist nicht akzeptabel.“ Es folgt ein Protokoll der Fehleinschätzungen. Fehleinschätzungen, die nach Jägers Einschätzung allesamt auf das Konto der Einsatzleitung gehen, während die Polizisten vor Ort „selbst darunter litten, dass sie die vielen Straftaten nicht verhindern konnten.“

Wo Flüchtlinge in Deutschland wohnen
Autobahnmeisterei Quelle: dpa
Deutschlands höchstgelegene Flüchtlingsunterkunft befindet sich im Alpenvorland Quelle: dpa
Container Quelle: dpa
Bischofswohnung und Priesterseminar Quelle: dpa
Eissporthalle Quelle: Screenshot
Ehemaliger Nachtclub als Flüchtlingsunterkunft Quelle: dpa
Jugendherberge Quelle: dpa

Aus Jägers Sicht beginnt das Versagen schon bei der Koordination des Einsatzes. So übernimmt die Einsatzleitung ein Beamter des gehobenen Dienstes, das Ereignis wird in der Organisation damit verhältnismäßig niedrig aufgehängt. „Das war die Ursache dafür, dass im späteren Verlauf immer wieder verschiedene Beamte von einzelnen Straftaten Kenntnis erhielten, aber nie einer die gesamte Lage im Blick hatte.“ Konkret hieß das: Den Einsatz vor dem Hauptbahnhof koordinierte die lokale Polizeiinspektion, die Kölner Leitstelle, bei der im Laufe der Nacht diverse Notrufe eingingen, war immer nur mittelbar darüber informiert, was zwischen Bahnhof und Dom vor sich ging. Damit war eigentlich klar: Sollte es den Beamten vor Ort nicht möglich sein, die Lage zu beherrschen, konnte die gesamte Situation schnell aus dem Ruder laufen. Und genauso kam es, heute lässt sich dabei ziemlich genau sagen, was das Unglück seinen Lauf nahm. Denn bereits gegen 20.30 Uhr bemerkten die Beamten vor dem Bahnhof erstmals die große Gruppe junger Männer nordafrikanischer und arabischer Herkunft. 400 bis 500 von ihnen befanden sich vor dem Bahnhof, zündeten Böller und waren bereits heftig alkoholisiert.

Das muss die Große Koalition im neuen Jahr anpacken
Flüchtlinge vor dem Lageso Quelle: dpa
Anti-Terror-Kampf: Ein Tornado der Bundeswehr Quelle: dpa
Bundeswehr: Ursula von der Leyen spricht in Berlin mit Soldaten Quelle: dpa
Ukrainische Soldaten in der Nähe von Artemivsk Quelle: AP
EU-Kommissionspräsident Juncker (l.), EU-Ratspräsident Tusk (M.) und Luxemburgs Premierminister Bettel in Brüssel Quelle: dpa
Der griechische Premierminister Alexis Tsipras während einer Parlamentsdebatte Quelle: REUTERS
Frankfurter Skyline Quelle: dpa

„Da hier bereits zu einem so frühen Zeitraum verhältnismäßig viele potenzielle Störer anwesend waren, hätte die Einsatzleitung die Dynamik des Abends vorausahnen müssen“, fasst es Bernd Heinen, Inspekteur der NRW-Polizei, zusammen. Schließlich bestanden zu diesem Zeitraum durchaus noch Handlungsmöglichkeiten, wie Jäger ausführt. „Der Kölner Polizei hätten vier verschiedene Wege zur Verfügung, an zusätzliches Personal zu gelangen.“ Der Spätdienst hätte im Dienst behalten werden können, stattdessen schickte man diese Beamten nach Hause, während am Dom die Böller flogen. Zudem hätte eine weitere Hundertschaft bereit gestanden, wurde aber nicht angefordert. Auch hätten in Aachen, Wuppertal und Gelsenkirchen noch Beamte bereitgestanden, die aber nicht angefordert wurden. Noch nicht einmal die verfügbaren Beamten aus den anderen Kölner Revieren wurden zusammengezogen. So füllte sich der Vorplatz immer mehr, die Stimmung wurde immer aggressiver.

Noch eine Fehleinschätzung

Spätestens um 23.30 Uhr fiel dann auch der Einsatzleitung auf, dass hier etwas aus dem Ruder lief. Der Platz wurde geräumt, musste aber schon nach sieben Minuten wieder freigegeben werden, um es den feiernden Kölnern zu ermöglichen, zu den Gleisen zu gelangen.  Kurz vor dieser Räumung kam es dann wohl zu einem Telefonat zwischen Einsatzleitung und der Landesleitstelle, in dem die Kölner Polizei sogar explizit eine Verstärkung ablehnte. Inspekteur Heinen kann sich das nur damit erklären, dass es ungefähr eine Stunde gedauert hätte, bis diese Verstärkung hätte eintreffen können. „Er ging offenbar davon aus, dass dies nicht dabei helfen werde, die gegenwärtige Lage in den Griff zu bekommen“, so Heinen. „Auch das war aber eine Fehleinschätzung.“ Denn auch um 0 Uhr oder 1 Uhr wären weitere Beamte dringend nötig gewesen. So sorgte die Platzräumung zwar kurzfristig für Ruhe, der Großteil der Sexualdelikte fand aber erst danach statt. Oder, wie Jäger es sagt: „Nach dem Drogen – und Alkoholrausch kam der Gewaltrausch.“ Heinen fasst den Verlauf zusammen. „Nach der Räumung des Platzes kehrten viele der jungen Männer in kleinen Gruppen wieder zurück, aus denen dann die Strafteten begangen wurden.“ Die Polizei aber war nun völlig überfordert. „Immer wieder gab es Ansprachen, Platzverweise und Identitätsfeststellungen“, so Heinen. Das aber änderte nichts.

Denn obwohl mehr als 70 Personen in Gewahrsam genommen wurden, setzte man die meisten davon kurz darauf wieder auf freien Fuß. Sie wurden im Fahndungssystem der Polizei überprüft, „für mehr aber war im Laufe des Abends keine Zeit.“ So dauerte es auch bis 0.50, bevor die Einsatzleitung erstmals von einem sexuellen Übergriff erfuhr, erst um 1.20 Uhr erging die Order an die beteiligten Beamten, entsprechende Delikte besonders in den Blick zu nehmen. Dabei hätte es durchaus noch Platz gegeben, wenn eine besser ausgestattete Polizei an diesem Abend Festnahmen hätte durchführen wollen. Von den gut 100 Plätzen in Gewahrsamszellen waren an Silvester nur 55 belegt. Auch detailliertere Kenntnis über die Verbrechen und mögliche Täter gingen der Kölner Polizei offenbar verloren, da schlicht zu wenige Beamte vor Ort waren. So gab es in der zuständigen Wache am Abend nur zwei Beamte, bei denen die Geschädigten Anzeigen aufgeben wollten. Im Laufe der Nacht füllte sich der Warteraum immer mehr, zwischenzeitlich warteten bis zu 50 Personen darauf, ihre Anzeige erstatten zu können. „Es kam dabei zu zum Teil erheblichen Wartezeiten“, so Heinen. Die Folge: Viele Opfer verließen die Dienststelle unverrichteter Dinge. Die Gegend um den Hauptbahnhof versank derweil im Chaos.

Auch die Bundespolizei im Bahnhof war fast komplett damit beschäftigt, ihre eigenen Leute zu beschützen, „die Beamten dort standen irgendwann Rücken an Rücken“, so Heinen. Frauen, die zu den Gleisen wollten, wurden deshalb zum Teil von Polizisten aus der Kölner Einheit durch den Bahnhof eskortiert. „Es dauerte bis in den Vormittag, bevor ein einheitliches Lagebild existierte“, fasst Jäger zusammen. Was in den kommenden Tagen folgte, war ein Kommunikationsdebakel, über das Opposition und Landesregierung noch einige Zeit streiten werden. Die unglaubliche Gewaltorgie aber war da längst geschehen: 516 Strafanzeigen verfolgt die Polizei bislang, darunter sind 237 Sexualdelikte, darunter zwei Vergewaltigungen und zwei versuchte Vergewaltigungen.   

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%