Übergriffe in Köln Am Bahnhof tobt der Mob und nebenan stehen Gefängniszellen leer

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Noch eine Fehleinschätzung

Spätestens um 23.30 Uhr fiel dann auch der Einsatzleitung auf, dass hier etwas aus dem Ruder lief. Der Platz wurde geräumt, musste aber schon nach sieben Minuten wieder freigegeben werden, um es den feiernden Kölnern zu ermöglichen, zu den Gleisen zu gelangen.  Kurz vor dieser Räumung kam es dann wohl zu einem Telefonat zwischen Einsatzleitung und der Landesleitstelle, in dem die Kölner Polizei sogar explizit eine Verstärkung ablehnte. Inspekteur Heinen kann sich das nur damit erklären, dass es ungefähr eine Stunde gedauert hätte, bis diese Verstärkung hätte eintreffen können. „Er ging offenbar davon aus, dass dies nicht dabei helfen werde, die gegenwärtige Lage in den Griff zu bekommen“, so Heinen. „Auch das war aber eine Fehleinschätzung.“ Denn auch um 0 Uhr oder 1 Uhr wären weitere Beamte dringend nötig gewesen. So sorgte die Platzräumung zwar kurzfristig für Ruhe, der Großteil der Sexualdelikte fand aber erst danach statt. Oder, wie Jäger es sagt: „Nach dem Drogen – und Alkoholrausch kam der Gewaltrausch.“ Heinen fasst den Verlauf zusammen. „Nach der Räumung des Platzes kehrten viele der jungen Männer in kleinen Gruppen wieder zurück, aus denen dann die Strafteten begangen wurden.“ Die Polizei aber war nun völlig überfordert. „Immer wieder gab es Ansprachen, Platzverweise und Identitätsfeststellungen“, so Heinen. Das aber änderte nichts.

Denn obwohl mehr als 70 Personen in Gewahrsam genommen wurden, setzte man die meisten davon kurz darauf wieder auf freien Fuß. Sie wurden im Fahndungssystem der Polizei überprüft, „für mehr aber war im Laufe des Abends keine Zeit.“ So dauerte es auch bis 0.50, bevor die Einsatzleitung erstmals von einem sexuellen Übergriff erfuhr, erst um 1.20 Uhr erging die Order an die beteiligten Beamten, entsprechende Delikte besonders in den Blick zu nehmen. Dabei hätte es durchaus noch Platz gegeben, wenn eine besser ausgestattete Polizei an diesem Abend Festnahmen hätte durchführen wollen. Von den gut 100 Plätzen in Gewahrsamszellen waren an Silvester nur 55 belegt. Auch detailliertere Kenntnis über die Verbrechen und mögliche Täter gingen der Kölner Polizei offenbar verloren, da schlicht zu wenige Beamte vor Ort waren. So gab es in der zuständigen Wache am Abend nur zwei Beamte, bei denen die Geschädigten Anzeigen aufgeben wollten. Im Laufe der Nacht füllte sich der Warteraum immer mehr, zwischenzeitlich warteten bis zu 50 Personen darauf, ihre Anzeige erstatten zu können. „Es kam dabei zu zum Teil erheblichen Wartezeiten“, so Heinen. Die Folge: Viele Opfer verließen die Dienststelle unverrichteter Dinge. Die Gegend um den Hauptbahnhof versank derweil im Chaos.

Auch die Bundespolizei im Bahnhof war fast komplett damit beschäftigt, ihre eigenen Leute zu beschützen, „die Beamten dort standen irgendwann Rücken an Rücken“, so Heinen. Frauen, die zu den Gleisen wollten, wurden deshalb zum Teil von Polizisten aus der Kölner Einheit durch den Bahnhof eskortiert. „Es dauerte bis in den Vormittag, bevor ein einheitliches Lagebild existierte“, fasst Jäger zusammen. Was in den kommenden Tagen folgte, war ein Kommunikationsdebakel, über das Opposition und Landesregierung noch einige Zeit streiten werden. Die unglaubliche Gewaltorgie aber war da längst geschehen: 516 Strafanzeigen verfolgt die Polizei bislang, darunter sind 237 Sexualdelikte, darunter zwei Vergewaltigungen und zwei versuchte Vergewaltigungen.   

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