Ulrich Wickert "Medien haben ein falsches Verständnis von Toleranz"

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"Die russische Propaganda richtet sich gegen deutsche Medien"

Es gab unzählige Talkshows zu Problemen mit kriminellen Ausländern und sogenannten „No-go-Areas“ in deutschen Großstädten.

Ja, aber in Bezug auf die Berichterstattung über Köln war es so, dass zu erst einmal die Polizei und dann auch einige Journalisten gesagt haben: Wir wollen den Rechtsradikalen kein Material liefern und lassen die Herkunft der Täter lieber weg.

Tabuisieren die Medien heutzutage mehr als früher?

Nein, es wurde immer schon tabuisiert. Das ist ein Phänomen von Gesellschaften und entsteht aus der kollektiven Identität. Ähnliche Fälle haben wir ja gerade aus Schweden oder England mitbekommen. Wir Deutschen tabuisieren, weil wir in unserem Kopf das Dritte Reich, die Konzentrationslager und die Vernichtung der Juden haben. Deswegen sagen wir: Wir müssen uns besonders human zeigen. Dann halten es manche für human, wenn sie gewisse Dinge nicht aussprechen.


In Deutschland ist es soweit gekommen, dass manche Gruppen von „Lügenpresse“ sprechen. Woher kommt dieses Misstrauen?

Die deutsche Presse wird gezielt diskreditiert, das kommt nicht nur aus unserer Gesellschaft, sondern auch von außen. Wir erleben aktuell, dass der russische Staat Propaganda gegen deutsche Journalisten macht, um ihr Vertrauen zu erschüttern. Ich persönlich halte es nicht für ausgeschlossen, dass der russische Geheimdienst den Begriff „Lügenpresse“ in Deutschland verbreitet hat.

Das ist mir neu, war es doch die Pegida-Bewegung, die dieses Wort gebraucht hat.

Ja, aber wie kam die Idee dort auf? Fakt ist, dass der russische Staat ausländerfeindliche Bewegungen in Europa unterstützt, zum Beispiel den Front National in Frankreich. Der hat zugegeben, mehrere Millionen Euro aus Moskau erhalten zu haben. Und wenn ich jetzt KGB-Chef wäre, was würde ich in Deutschland tun? Die Presse diskreditieren, indem ich ein Wort wie „Lügenpresse“ lanciere. Wir sehen, dass sogar der russische Außenminister die falsche Geschichte eines angeblich vergewaltigten deutsch-russischen Mädchens benutzt, um zu behaupten, dass die deutschen Medien Dinge verschweigen. Das finde ich schon enorm. Und wenn Russlanddeutsche in Berlin dann gegen unsere Medien demonstrieren, ist der russischen Propaganda schon viel gelungen.

Das klingt für mich nach einer Verschwörungstheorie. Haben Sie Belege dafür, dass der russische Geheimdienst Pegida unterstützt?

Nein. Keineswegs. Ich sage nicht, dass es so ist. Aber wir müssen darüber nachdenken! Und wenn wir uns anschauen, wie sich die russischen Medien mit deutscher Berichterstattung auseinandersetzen, müssen wir sagen: Hier gibt es Versuche der russischen Propaganda, Dinge in Deutschland zu bewegen. Es gibt dazu ja noch eine Reihe weiterer Vorfälle, die belegen, wie die russische Propaganda vorgeht, sei es die falsche Behauptung über einen Bericht im WDR, der in Wirklichkeit nie existiert hat oder der Versuch, eine kritische ZDF-Dokumentation zu diskreditieren.

Die Berichterstattung ist heute auch getrieben von Spekulationen und Gerüchten auf Facebook. Schauen Sie sich diesen Diskurs an?

Nein, da steht zu viel Müll drin. Aber ich sehe da ein enormes Problem. Ein Helfer behauptet im Internet, ein Flüchtling sei in Berlin gestorben. Ohne Beleg. Die Polizei stellt fest, dass die Meldung erfunden war. Jetzt werden Behauptung und ihre Entlarvung auch auf seriösen Internetportalen gemeldet. Und es entsteht beim Nutzer ein merkwürdiges Gefühl. Er ist verwirrt. Ich stelle mir nun die Frage: soll man sich mit solch einer Meldung überhaupt abgeben? Da sie verwirrt statt Orientierung zu geben, bin ich dafür, es zu unterlassen.

Herr Wickert, ich danke Ihnen für das Gespräch.

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