Ulrich Wickert "Medien haben ein falsches Verständnis von Toleranz"

Das Vertrauen in deutsche Medien ist gesunken. Ulrich Wickert, einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands, spricht im Interview über Tabuthemen, russische Propaganda und "Müll auf Facebook".

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Ulrich Wickert, Ex-

Herr Wickert, sind Journalisten noch die Vierte Gewalt im Staat?

Ulrich Wickert: Dieser Anspruch war immer schon falsch. Es gibt keine demokratische Legitimierung der Presse. Stattdessen sind Medien in größten Teilen ein Teil der Wirtschaft.

Wie meinen Sie das? Die Pressefreiheit steht im Grundgesetz.

Medien sind geprägt durch wirtschaftliche Interessen. Verlage müssen sich überlegen: Wie verkaufe ich mein Blatt? Wie viel Gewinn mache ich? Das ist in meinen Augen schon eine Beschränkung der Vierten Gewalt.

Welchen Anspruch haben Sie an Journalisten?

Sie sollen aufklären, jedoch nicht im Sinne der Polizei, sondern eher nach der Definition von Aufklärung des Philosophen Immanuel Kant: Wissen vermitteln, damit sich Leser kraft ihres Verstandes eine Meinung bilden können. Wichtig ist, dass Fakten von Meinungen klar getrennt werden.

Zur Person

Das lernt man bereits in der Journalistenschule.

Ja, aber es ist aktueller denn je. Unsere Aufgabe ist, Dinge klar zu benennen, ohne zu überlegen: Schade ich damit irgendwem, oder liefere ich bestimmten Gruppen Argumente?

Geben Sie uns dafür bitte ein Beispiel.

Verstehen Sie mich nicht falsch, die deutsche Presse hat sich seit der Silvesternacht hervorragend bewährt. Durch die Recherche der Medien hat die Bevölkerung alles erfahren. Aber ich beobachte ein falsches Verständnis von Toleranz und Demokratie, weil manche Dinge tabuisiert wurden. Es gibt Momente, in denen man benennen muss, dass es algerische oder marokkanische oder tunesische Jugendliche gibt, die ein gewisses Verhalten in Deutschland an den Tag legen, das wir nicht dulden.

"In Deutschland wird tabuisiert, weil wir noch das Dritte Reich im Kopf haben."

Im Pressekodex aber steht: „In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“

Das Wichtige ist, dass unsere Presse Bescheid weiß, was passiert – und das auch sagt. Denn das ist eines der ganz großen Probleme in der Gesellschaft: Wenn wir Dinge nicht benennen, können wir uns damit auch nicht auseinandersetzen. Das Interessante ist, dass seit dem Silvesterabend in Köln zum ersten Mal über Probleme mit Menschen aus Nordafrika diskutiert wird, weil es ein Massenphänomen war. Aber dann stellt sich plötzlich raus, dass es sowas schon länger bei uns gibt! Vorher wurde das tabuisiert.

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