Die Bundestagswahlen rücken näher. Und diese entscheiden sich in Deutschland meist vor allem am großen Thema Gerechtigkeit. Das wird, da muss man kein Prophet sein, auch diesmal so sein. Ein großer Teil aller politischen Wahlversprechen zielt darauf, den Gerechtigkeitssinn des Wählers zu treffen. Denn der will, so hat der Soziologe Heinz Bude einmal festgestellt, dass die von ihm Gewählten weniger seine Interessen, sondern vielmehr seine Sicht der Welt vertreten. Und in der Weltsicht der gegenwärtigen Deutschen ist Gerechtigkeit in der Regel die zentrale Instanz. Man wählt diejenigen, die man am ehesten für die Vertreter der Gerechtigkeit hält.
Dem Gerechtigkeitssinn in deutschen Köpfen erforschte jetzt auch eine Untersuchung des Allensbach-Instituts im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) mit dem Titel "Was ist gerecht?" Sie beruht auf zwei Umfragen im Dezember und Januar unter 1847 beziehungsweise 1653 repräsentativ ausgewählten Befragten. Dass die Deutschen die Verhältnisse für ungerecht halten, ist überdeutlich: 69 Prozent der Bürger halten die "wirtschaftlichen Verhältnisse" für ungerecht. Zwar nimmt, wie nicht anders zu erwarten, dieser Anteil mit zunehmendem Einkommen ab, aber selbst in der Oberschicht sind es 58 Prozent. Und was wohl noch beunruhigender ist: 64 Prozent von allen Befragten glauben, dass die Gerechtigkeit in den "letzten drei, vier Jahren" weniger geworden ist. Ein Ergebnis, dass die arbeitgebernahe INSM in Ihrer Pressemitteilung nicht für erwähnenswert hält.
In den Interviews wurde aber vor allem deutlich, dass die Deutschen unter sozialer Gerechtigkeit nicht nur die Verteilungsgerechtigkeit verstehen, also die Entwicklung von Einkommen und Vermögen in den sozialen Schichten. Auf einer Skala von 0 (unwichtig) bis 10 (ganz besonders wichtig) erhielt Chancengerechtigkeit bei den Befragten mit 9,1 die höchste Durchschnittsnote. Zum Vergleich: Familiengerechtigkeit 8,3; Leistungsgerechtigkeit 8,3; Generationengerechtigkeit 7,9; Verteilungsgerechtigkeit 7,5.
Auf die Frage "Was ist soziale Gerechtigkeit?" gaben 90 Prozent der Befragten die Antwort "Alle Kinder haben die gleichen Chancen auf eine gute Schulbildung". Neben der Gleichheit der Chancen sehen die Deutschen aber auch eine soziale Absicherung als integralen Bestandteil einer gerechten Gesellschaft. Die größte Einigkeit (91 Prozent der Befragten) besteht darin, dass "man von dem Lohn für seine Arbeit auch leben" können muss. Den Staat sehen 77 Prozent der Deutschen in Pflicht, für eine "Grundsicherung" zu sorgen. Eine knappe Mehrheit von 53 Prozent wünscht sich, dass der Staat durch Steuern dafür sorge, "dass die Einkommensunterschiede in der Gesellschaft nicht größer werden".
Die Politik soll für Gerechtigkeit sorgen
Radikal egalitäre Ziele, wie sie etwa in der Forderung der Linkspartei nach "Reichtum für alle" zum Ausdruck kommen, hat die Mehrheit nicht. 70 Prozent unterstützen die Forderung "Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen als derjenige, der weniger leistet". Nur neun Prozent halten eine Gesellschaft für gerecht, "in der es keine großen Einkommensunterschiede gibt". Das Leistungsprinzip wird von den meisten auch mit den sozialen Sicherungssystemen verknüpft: 76 Prozent halten es für ungerecht, wenn Geringverdiener nur unwesentlich mehr Geld bekommen als Arbeitslose. „Die große Mehrheit möchte keine egalitäre Gesellschaft, sondern akzeptiert soziale Unterschiede – aber unter der Bedingung, dass auch, vor allem über politische Maßnahmen, ein sozialer Ausgleich erfolgt“, sagt Allensbach-Chefin Renate Köcher.
Dass sie eine nach dem Leistungsprinzip sozial differenzierte Gesellschaft prinzipiell für gerecht halten, heißt allerdings nicht, dass die Deutschen das real existierende Ausmaß der sozialen Ungleichheit gutheißen. "Die große Mehrheit ist seit Jahren überzeugt, dass die sozialen Unterschiede kontinuierlich wachsen und ein ungesundes Maß erreicht haben", heißt es in der Untersuchung. Verantwortlich dafür machen die Bürger offenbar aber weniger die Unternehmen als vielmehr die Politik. 65 Prozent glauben, dass die Politik mehr als die Wirtschaft dazu beitragen könnte, "dass es gerecht zugeht". Interessanterweise wird dem Staat, beziehungsweise dem Steuersystem unterstellt, dass es die sozialen Unterschiede vergrößert (73 Prozent).
Die Deutschen wünschen sich offenbar einen starken, eingreifenden Staat, der noch mehr als bisher die Ungleichheiten besänftigt, die im Wirtschaftsleben produziert werden. Die Frage, die die Untersuchung nicht beantworten kann, ist, inwieweit diese enorme Erwartungshaltung, die entsprechend hohes Enttäuschungspotenzial mit sich bringt, von den Parteien auch selbst provoziert wird. Wer wie die politischen Parteien in den Wahlkämpfen viel Gerechtigkeit verspricht, von dem wird auch erwartet, dass er dafür sorgt. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis seines Handelns mehr Enttäuschung als Zufriedenheit bewirkt, ist groß.
Ein wenig Dampf aus dem politischen Gerechtigkeitsdiskurs abzulassen, forderten daher schon vor dem letzten Bundestagswahlkampf Ulrike Meyer und Rainer Maria Kiesow vom Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte in ihrem Forschungsprojekt die "Diktatur der Gerechtigkeit". Gegen Gerechtigkeit als Supernorm gibt es durchaus vernünftige Vorbehalte. Vor allem den, dass die Allgegenwart des Anspruchs auf Gerechtigkeit aufgrund politischer Propaganda im Widerspruch steht zu der von vielen Soziologen, Politologen und Juristen gewonnenen Überzeugung, dass es eine verallgemeinerbare Substanz von Gerechtigkeit überhaupt nicht gibt. Gerechtigkeit sei "eine ,normative Black Box', in die alles und nichts hineingelegt und -gelesen werden kann", schreiben Kiesow und Meyer.
Sie sind nicht die ersten, die das erkannt haben. Der positivistische Rechtstheoretiker Hans Kelsen (1881-1973) stellte in einem berühmten Aufsatz sich selbst dieselbe Frage wie das Allensbach-Institut den Deutschen - "Was ist Gerechtigkeit?" Seine Antwort: nur "inhaltsleere Formeln". Dafür, dass die Gesellschaft funktioniert, so Kelsen, ist allenfalls "relative Gerechtigkeit" wichtig, in anderen Worten: Toleranz für die Ungleichheit.