Unterrichtsfach Glück "Unsere Schulen sind zu sehr auf Leistung fixiert"

Martina Reiske und ihr Mann Gerhard Mengelkamp lehren, was viele Menschen ihr Leben lang suchen: Glück. Ein Gespräch über gestresste Kinder, Leistungsdruck und Erfolg durch Glücksunterricht.

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„Lass es Glück regnen!“ Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Frau Reiske, vor zwei Jahren haben Sie an Ihrer Bielefelder Grundschule Glücksunterricht auf den Lehrplan der vierten Klasse gesetzt. Warum?
Reiske: Im Glücksunterricht beschäftigen wir uns vor allem mit den Fragen: Was will ich? Was kann ich? Wo liegen meine Interessen? Was stelle ich mir für mein Leben vor? Wer seine eigenen Stärken kennt, dem wird auch später die Berufswahl leichter fallen. Und ein gesundes Selbstbewusstsein hilft als Vorbereitung auf die Leistungsgesellschaft, in die die Schüler hineinwachsen. 

Zu den Personen

Wie läuft so eine Glücksstunde genau ab?
Reiske: Zunächst einmal gibt es keine Noten und keinen Leistungsdruck. Die Kinder ziehen vor der Tür ihre Schuhe aus, laufen durch einen bunten Bogen in die Klasse und sitzen in einem Kreis zusammen. In der Mitte liegen Glückskekse und Kleeblätter. Zum Abschluss darf ein Kind mit Konfetti werfen, nach dem Motto: „Lass es Glück regnen!“ Ein gemeinsamer Beginn und Abschluss mit wiederkehrenden Ritualen ist uns wichtig. 

Und was machen Sie inhaltlich?
Reiske: Verschiedene Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins. Die Kinder packen sich zum Beispiel gegenseitig „Glücksrucksäcke“: Sie kleben sich Plakate auf den Rücken und schreiben darauf, was sie aneinander mögen. Oder sie führen ein Glückstagebuch, in dem sie festhalten, was sie Positives erlebt haben. 

Herr Mengelkamp, Sie lehren Glück an einem Berufskolleg. Dort läuft der Unterricht bestimmt anders ab.
Mengelkamp: Klar, meine Schüler sind ja im Schnitt bereits 20 Jahre alt. Hier geht es eher darum, die Schüler lebenstüchtig zu machen. Glück klingt ja ein bisschen esoterisch, es geht aber um ganz Pragmatisches. 

Und zwar?
Mengelkamp: Wir malen zum Beispiel eine „Lebenspizza“. Jedes Pizzastück symbolisiert einen Lebensbereich, zum Beispiel Arbeit oder soziale Beziehungen. Wir überlegen uns dann: Wie sind diese Lebensbereiche bei mir verteilt? Und wie wäre die ideale Verteilung? 

Geht es auch um Berufsvorbereitung?
Mengelkamp: Genau, aber nicht im Sinne von konkreter Berufsberatung, das gibt es ja schon. Wir schreiben unsere Visionen auf: Was ist die beste Vorstellung von meinem Leben? Wohin will ich? Die Schüler sollen groß denken. Wir setzen uns dann mehrere kleine Ziele, um das große Ziel zu erreichen. Dazu überlegen wir uns: Was muss ich tun, um meine Ziele umzusetzen? Und nach der Umsetzung kommt die Reflexion.

Sie sind also nicht nur Lehrer, sondern auch Life Coach.
Mengelkamp: Ein Stück weit ja. Wir werden mit vielen Aufgaben betraut, die früher die Eltern stärker wahrgenommen haben. Aber wir haben ja auch einen umfassenden Bildungsauftrag. Es geht nicht nur darum, Fachwissen zu vermitteln, sondern auch zu erziehen und Anleitung zu einer verantwortungsvollen Lebensgestaltung zu geben. Deshalb entspricht das auch meinem Selbstverständnis als Pädagoge. 

Positive Rückmeldungen von allen Seiten

Wie kommt denn der Glücksunterricht bei den Schülern an?
Reiske: Wir haben Lehrer, Eltern und natürlich die Schüler gefragt, wie sie den Glücksunterricht finden. Das Ergebnis war sehr positiv: Bei den Viertklässlern gab es vorher ein gewisses Konkurrenzdenken, wenn es um den Übergang auf die weiterführenden Schulen geht. Das hat nachgelassen. Die Kinder haben sich selbst und die anderen besser kennengelernt und wissen jetzt, wer in welchem Bereich seine Stärken hat. Sie sind weniger gestresst. 

Ist unser Schulsystem zu sehr auf Leistung fixiert?
Reiske: Auf jeden Fall. Je älter die Kinder werden, desto leistungsbezogener ist Schule für sie. Die Lehrpläne sind extrem voll, es wird viel gemessen und verglichen, aber nicht besser gelernt. Dafür brauchen Kinder mehr Zeit. 
Mengelkamp: Das sehe ich genauso. In der Schule gibt es eine einseitige Ausrichtung auf das Kognitive. Es muss auch Raum für Emotionen und Reflexion zur Steigerung des subjektiven Wohlbefindens geben. 

Was müsste sich im Bildungssystem ändern?
Wir brauchen mehr Ressourcen und langfristig angelegte Projekte. Ein Beispiel ist die Inklusion: Die fordert die Politik und die Schulen wollen sie auch umsetzen, kriegen aber zu wenige Ressourcen dafür. Wir haben 15 Klassen, in jeder Klasse gibt es mindestens ein Kind, das sonderpädagogische Betreuung braucht. Wir haben aber nur drei Sonderpädagogen an der Schule. Das ist zu wenig. Bildung muss Politik mehr wert sein. 

Gilt das auch für die Bezahlung der Schulleiter?
Reiske: Ja. Es wird immer schwieriger, Schulleiter zu finden. Der Job ist mit viel Arbeit und Aufwand verbunden, aber die Wertschätzung ist gering. Gerade Grundschulleiter werden nicht entsprechend bezahlt. Meine Stellvertreterin verdient zum Beispiel weniger als die Sonderpädagogen bei uns an der Schule. Dabei trägt sie die volle Verantwortung, wenn ich nicht da bin.

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