Verbraucherschutz Bewährungsprobe für Merkel und Schulz

Beim Verbrauchertag nehmen Merkel und Schulz den Verbraucherschutz in den Blick – für beide eine Herausforderung. Denn laut einer Umfrage fühlen sich viele Bürger bei dem Thema von der Politik im Stich gelassen.

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Quo vadis Verbraucherschutz? Beim Verbrauchertag wollen Kanzlerin Merkel und SPD-Kanzlerkandidat Schulz Antworten liefern. Quelle: Reuters

Berlin Die Wahlkämpfer haben die Verbraucher entdeckt. Drei Monate vor der Bundestagswahl will Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Vormittag beim Deutschen Verbrauchertag in Berlin ihre verbraucherpolitischen Vorstellungen skizzieren, wenige Stunden später folgt SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. Auch er will eigene Akzente zu setzen und erklären, was Verbraucher von ihm erwarten können, sollte er in die Regierungsverantwortung kommen. In Wahlkampfzeiten kommt es auf jede Stimme an.

Doch die Skepsis gegenüber der Politik ist groß und kommt nicht von ungefähr, wie etwa der VW-Skandal um Abgasmanipulationen bei Dieselmotoren eindrucksvoll zeigt. Über zwei Millionen Autobesitzer sind in Deutschland betroffen. Im Gegensatz zu Kunden in den USA gab es aber für sie bisher keine Entschädigung. Unterm Strich hat der Autobauer in der Affäre keine gute Figur gemacht, und auch die Politik hat es nach Meinung von Verbraucherschützern nicht vermocht, dem Konzern Grenzen aufzuzeigen und verbraucherfreundliche Lösungen abzuringen.

Der Fall VW wirft insofern ein Schlaglicht auf die Frage, inwieweit die Politik in der Lage ist, für einen gerechten Interessenausgleich zwischen der Wirtschaft auf der einen und den Bürgern auf der anderen Seite zu sorgen. Eine repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv) kommt zu ernüchternden Ergebnissen.

72 Prozent aller 1.002 Befragten ab 18 Jahre glauben demnach, dass die Politik vor allem die Belange von Unternehmen berücksichtigt. Nur 39 Prozent der Befragten vertreten hingegen die Meinung, dass Verbraucherschutz sehr starke oder starke Berücksichtigung bei der Politik findet.

Aus Sicht von Klaus Müller, Vorstand des VZBV, sollte der Befund „politische Entscheider wachrütteln“. Verbraucherschutz, betont er, müsse einen „zentralen Platz im politischen Prozess“ haben. „Verbraucherschutz darf nicht nur nach politischen Skandalen auf die politische Agenda rutschen.“ Die Mehrheit der Bürger (63 Prozent) glaubt indes, dass Verbraucherschutz nur punktuell bei aktuellen Ereignissen wie Krisen und Skandalen berücksichtigt werde. Elf Prozent meinen sogar, dass er gar nicht berücksichtigt werde.

Müller hofft, dass die Politik daraus die richtigen Konsequenzen zieht. „So kurz vor der Bundestagswahl dürfen sich Verbraucher nicht von der Politik alleine gelassen fühlen“, sagt er. „Für die Politik ist das eine Chance: Alle Wähler sind Verbraucher.“


Verbraucherschützer mit Forderungskatalog zur Bundestagswahl

Trotz der scheinbar großen Enttäuschung vieler Bürger über die Verbraucherpolitik, fällt das Urteil der Verbraucherschützer über die vergangenen schwarz-roten Regierungsjahre nicht ganz so schlecht aus. Dem für das Thema zuständigen Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), der am Nachmittag ebenfalls am Verbrauchertag teilnimmt, attestierte der VZBV jüngst in einer Bilanz, einiges erreicht zu haben.

Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, sind die sogenannten Marktwächter neu bei den Verbraucherzentralen etabliert worden. Dieses Frühwarnsystem für den Verbraucherschutz startete Anfang 2015 für den „Finanzmarkt“ und die „Digitale Welt“. Ein dritter Marktwächter für „Energie“ kam in diesem Jahr hinzu. Deutschlands oberste Verbraucherschützer sehen in dem Instrument einen der größten Pluspunkte der Verbraucherpolitik unter Justiz- und Verbraucherschutzminister Maas.

Auch sonst fällt ihre Bilanz nach fast vier Jahren Große Koalition überwiegend positiv aus. Man könne „mit einem guten Gefühl auf diese Legislaturperiode blicken“, heißt es in einem Bilanzpapier des VZBV. Ein „enormer Vorteil“ sei beispielsweise, dass das Verbraucherministerium ein Initiativrecht habe und selbst Gesetzentwürfe einbringen könne. Das war nicht immer so.

Erst mit dem Regierungswechsel 2013 wanderte der Verbraucherschutz vom Landwirtschafts- ins Justizministerium. „Die Zusammenführung der Verbraucherpolitik mit dem Recht hat den wirtschaftlichen Verbraucherschutz gestärkt“, resümierte Maas. Der VZBV sieht in der Neuordnung der Zuständigkeiten sogar einen der „entscheidenden“ Gründe, warum „viele“ Vorhaben in den vergangenen Jahren durchgebracht worden seien.

Beim Verbrauchertag blicken die Verbraucherschützer nach vorne – mit einem eigenen Forderungskatalog. So verlangt der VZBV die Einrichtung einer neuen Institution zur Überwachung von Computer-Entscheidungen in sensiblen Bereichen. „Wir brauchen einen Algorithmen-Tüv“, sagte VZBV-Chef Müller dem Handelsblatt.

Als Beispiel verwies er auf die Diesel-Affäre. „Der Motor und die Bremsen sind weiter wichtig, aber die Software ist es zunehmend auch.“ Der Betrug habe dort gesteckt. „Wir brauchen eine unabhängige Stelle, die in der Lage ist, die Algorithmen zu überprüfen. Das könnte auch eine zertifizierte private Institution sein.“


„Wir wollen Antworten hören von Frau Merkel und Herrn Schulz“

Müller will solch einen Algorithmen-Tüv nicht nur für die Autoindustrie, sondern auch für den Gesundheits- und Finanzsektor. „Wenn Krankenversicherer die Schadensregulierung über Algorithmen laufen lassen, muss es jemanden geben, der prüfen kann: Welche Daten gehen da ein, wonach wird entschieden, wird der Verbraucher diskriminiert?“

Über den Algorithmen-Tüv will Müller beim Verbrauchertag Merkel und Schulz sprechen. Die Veranstaltung steht unter dem Motto Sicherheit. Neben der Digitalisierung geht es um die Sicherung der privaten Altersvorsorge in Niedrigzinsumfeld und um ein bezahlbares Gesundheitssystem. „Hier wollen wir Antworten hören von Frau Merkel und Herrn Schulz, wie die Sicherheit der Verbraucher verbessert werden kann“, sagte Müller.

Die neue Bundesregierung soll sich demnach unter anderem für die Einführung eines kosteneffizienteren Altersvorsorgeprodukts stark machen. Dahinter steht die Ansicht, dass die Riester-Förderung zwar zum Sparen animieren solle, aber bis heute in der Breite keine effizienten Produkte hervorgebracht habe. Ein einfaches und kostengünstiges Standardprodukt, das als Non-Profit-Produkt ausgestaltet ist, sei daher für die Altersvorsorge erforderlich.

Der VZBV hält überdies eine „nachhaltige finanzielle Entlastung“ für Verbraucher für zwingend und rät daher zu einer Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Zudem fordern die Verbraucherschützer einen wirksamen Mechanismus gegen Diskriminierung in der digitalen Welt. Aufsichtsbehörden müssten für mehr Transparenz sorgen, Diskriminierung aufdecken und Zugang zu Algorithmen erhalten. „Die Politik muss verstehen: Verbraucherschutz schafft Sicherheit“, so VZBV-Chef Müller.

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