Von Pisa bis zum Föderalismus Die drei Mythen der deutschen Bildungspolitik

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Mythen 2 und 3

2. Mythos: Die Kleinstaaterei funktioniert

Wenn es um die Schulpolitik geht, ist Deutschland weiterhin ein Reich mit 16 Königtümern. Erst wurde jahrelang debattiert, warum es sinnvoll sei, den Weg zum Abitur an Gymnasien zu verkürzen – auf acht statt neun Jahre. Mit der Zeitersparnis von einem Jahr solle Deutschland wettbewerbsfähiger werden.

Doch von Lehrergewerkschaften und Eltern kam von Beginn an Widerstand. Der Stress sei zu hoch, die Überforderung der Kinder und Jugendlichen enorm. Die Kritiker hatten Erfolg. Niedersachsen kehrt vollständig zum G9-Modell zurück, der Freistaat Bayern ebenfalls. Nur der Osten bleibt bei G8, ebenso die Stadtstaaten Hamburg und Bremen sowie das Saarland. Im Rest der Republik sind Mischformen zwischen G8 und G9 entstanden, die die Mobilität von Familien und Schülern deutlich erschweren.

In seiner Zeit als Senator in Berlin hatte Jürgen Zöllner ein System eingeführt, bei dem die Gymnasien nach acht Jahren zum Abitur führen und die Sekundarschulen nach neun Jahren. Letztere sind Zusammenschlüsse von Haupt-, Real- und Gesamtschulen, die alle Bildungsabschlüsse anbieten. „So kann jeder frei wählen“, sagt Zöllner. Das System gilt unter Bildungsforschern als eine der besten Umsetzungen von G8. Allerdings: Zöllner hält nichts von immer neuen Bildungsreformen. Die seien eine unnötige Belastung für Lehrer, Eltern und Schüler. Und er warnt: „Ein stures Zurück zu G9 ist falsch, auch G8 und G9 an der gleichen Schule“.

3. Mythos: Wir brauchen immer mehr Abiturienten

Hauptsache Abitur – jahrelang war das das Credo von Wirtschaft und Politik. Die OECD rät gar, dass 70 Prozent eines Jahrgangs die Hochschulreife erwerben sollen. Tatsächlich bewegt sich Deutschland in diese Richtung. Machten 2006 noch 43 Prozent aller Schüler eines Jahrgangs Abitur oder die Fachhochschulreife, waren es im Jahr 2014 schon 53 Prozent – ein Plus von zehn Punkten. Die Zahl der Studienanfänger lag zuletzt bei 55 Prozent.

Die baden-württembergische Bildungsministerin Susanne Eisenmann hält diese Entwicklung für falsch. „Wir haben alle – Politik und Wirtschaft – zu stark den Wert der Abiturientenquote betont“, sagt die CDU-Politikerin. „Das war ein Fehler.“ Eisenmann, die derzeit auch Präsidentin der Kultusministerkonferenz ist, will deutschlandweit den Wert der beruflichen Bildung wieder stärker betonen. „Wir müssen schon in der Schule klar machen, dass auch eine Ausbildung im dualen System zu einer anspruchsvollen und lukrativen Karriere führen kann“, sagt Eisenmann.

Für die Titelgeschichte der WirtschaftsWoche 20 zur Schulbildungsmisere in Deutschland haben Reporter mit Unternehmern, Bildungspolitikern, Lehrern und Schülern gesprochen. - und festgestellt, warum trotz zahlreicher Bildungsoffensiven nach dem Pisa-Schock viele Schüler nicht einmal wesentliche Fähigkeiten in Mathe, Deutsch und Physik vorweisen können. Begeben Sie sich mit uns auf Spurensuche nach dem Königsweg in der Schulbildung: Mit dem WiWo-Digitalpass erhalten Sie die Ausgabe 20 bereits am Donnerstagabend in der App oder als eMagazin. Alle Abo-Varianten finden Sie auf unserer Info-Seite.

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