Vor dem Milchgipfel Es geht nicht um die Bauern, sondern um uns alle

Der Erhalt lebensfähiger bäuerlicher Betriebe ist keine Subvention wie jede andere. Die gesamte Gesellschaft hat ein Interesse daran, dass die Landwirtschaft nicht vollständig industrialisiert wird.

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Bauer: Der erste aller Berufe. Quelle: Getty Images

Mit den Bauern beginnt die Geschichte. Sie stehen am Anfang jeder Kultur (lateinisch „cultura“=Ackerbau). Bauer sein, das ist eben kein Beruf wie jeder andere, sondern der erste aller Berufe.

Fast jeder heute lebende Mensch muss nur drei oder vier Generationen in seiner Ahnenreihe zurückblicken, egal ob die nach Deutschland, Süditalien oder Ostanatolien zurückweist, bis er auf Bauern stoßen wird. Darum kann es Menschen mit Herz und Verstand nicht kalt lassen, was mit dem Bauerntum passiert.

Dass etwas damit passiert, dass es zu verschwinden droht, lässt schon die Antiquiertheit dieses Wortes erahnen. „Landwirt“ nennt sich heute, wer einen Hof bewirtschaftet. Die Großväter der heutigen Landwirte würden die Höfe – oder „Betriebe“ – ihrer Nachkommen vermutlich kaum wiedererkennen. Sie würden sicherlich ihre Arbeit auch nicht als „Agribusiness“ bezeichnen, wie das der Bauernverband in seinem aktuellen Situationsbericht tut.

Der komplizierte Milchmarkt

Die Milchpreiskrise, ein Dauerzustand, der sich seit Kurzem extrem dramatisiert hat, droht zu beschleunigen, was schon lange zu beobachten ist. Seit vielen Jahren gibt alljährlich etwa jeder hundertste Bauer seinen Hof endgültig auf. Im Jahr 2015 haben 5 Prozent der Milchviehbetriebe ihre Kühe abgegeben. Möglicherweise werden, wenn die Baisse am Milchmarkt länger anhält und die Bundesregierung am 30. Mai beim „Milch-Gipfel“ nicht einspringt, noch mehr Familienbetriebe noch schneller aufgeben. Man habe zumindest die „böse Erwartung“, dass es so komme, heißt es beim Bauernverband.

Vorneweg: Ein soziales Drama steht nicht an. Ein Lobbyisten-Kampfbegriff wie „Bauernsterben“ weckt falsche Assoziationen. Die deutschen Bauern des Jahres 2016 – von ihren Erntehelfern und Angestellten ist hier nicht die Rede – gehören in aller Regel nicht zur Unterschicht. Sie sitzen auf Land- und Immobilienbesitz, der sie in vielen Fällen zu Vermögensmillionären macht. Ein Milchbauer, der seine Kühe verkauft und seinen Hof zur Ferienanlage umfunktioniert, in Windräder investiert oder sich einen anderen Job sucht, wird in der Regel kaum zum Sozialfall werden.

Also alles gut? Soll der Staat sich raushalten und die unsichtbare Hand des Marktes ihr Werk an den Bauern tun lassen?

Man kann so argumentieren. Und die Bauern selbst wären gut beraten, sich nicht auf die Retter aus den Ministerien zu verlassen. Sie sollten in ihre „Marke“ investieren – in die individuelle und die ihrer Genossenschaften. Das rät auch der Bauernverband. Winzer und Biobauern, die derzeit am rentabelsten wirtschaften, machen vor, wie das geht. Für Milch von „Berchtesgadener Land“ oder „Landliebe“ zahlt der Verbraucher mehr als für andere, so wie er auch für einen guten Riesling vom Rheingau mehr zahlt als für den Liter Tafelwein im Tetrapack. Er will längst nicht nur satt werden. Er will sich gut ernähren und genießen – und vor allem mit gutem Gewissen.      

Aber damit ist die gesellschaftliche und politische Frage nicht befriedigend beantwortet. Denn die Gegenwart und Zukunft der Landwirtschaft ist nicht nur eine ökonomische Angelegenheit. Eine dogmatisch-marktradikale Reaktion ist deswegen nicht widerspruchsresistent, wenn es tatsächlich um die Bauern als solche geht.

Landwirtschaftspolitik ist Stabilitätspolitik

Wie gesagt: Bauer ist kein Beruf wie jeder andere. Bauern sind nicht nur Produzenten von Nahrungsmitteln, sondern die Art und Weise, in der sie das Land bewirtschaften, prägt die in Jahrhunderten entstandene Kulturlandschaft. Dass es in Deutschland keine Kohle-Bergleute mehr gibt, ist selbst für Ruhrgebietsbewohner und Saarländer mit ein paar nostalgischen Tränen zu verkraften. Denn wir werden ohne Kohlebergbau nicht zu einem anderen Land. Aber ein Land ohne Bauern, ohne familiär betriebene Landwirtschaft, ein Land, in dem Nahrungsmittelkonzerne säen, ernten, melken und mästen lassen, wäre ein anderes Land – im konkretesten Sinne des Wortes. Das Ergebnis wären vermutlich Landschaften, wie wir sie aus den USA und Brasilien kennen und auch aus eigenen Erfahrungen im real existierenden Sozialismus der „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften“. Landwirtschaftswüsten, öde und eintönig. Wollen wir das?

Die Mehrheit der Menschen, gerade jene, die in urbanen Räumen fern von Gülle und Kuhstall leben, wird das nicht wollen. Die Sehnsucht nach „Landlust“ äußert sich zum Beispiel im riesigen Erfolg der gleichnamigen Zeitschrift und ihrer Nachahmer. Man kann vielleicht sogar die absurde Liebe der gutverdienenden Großstädter zum Geländewagen als verkappte Landliebe verstehen. Niemand träumt dagegen vom landwirtschaftlichen Konzern. Die Alm des Bergbauern, der kleine Familienbetrieb in Süddeutschland, sind Sehnsuchts- und Ferienorte – nicht der industrialisierte Massenbetrieb, wie er in Norddeutschland schon lange die Landwirtschaft prägt.

Selbstverständlich sollte man sich davor hüten, das Bauerntum romantisch zu verklären, wie das seit dem 19. Jahrhundert immer wieder geschah. Trauriger Höhepunkt war der ideologische Missbrauch durch die Nazi-Ideologie von „Blut und Boden“, in der die Bauern als „Nährstand“ und „Urquell“ des Volkes verherrlicht wurden. Bäuerliches Leben war aber auch nie nur Bullerbü-Idylle oder Liebe im Stroh. Dazu gehörte (und gehört?) wohl ebenso eine Menge Schnaps und der „Idiotismus des Landlebens“ (Karl Marx). Die Sehnsucht des Städters ist vermutlich nur verständlich als ein Indiz der Entwurzelung und Entfremdung vom Land.

Doch das mindert nicht die Berechtigung dieser Sehnsucht: Eine Gesellschaft, die die dauernde Erneuerung zu ihrem Wesenskern gemacht hat, braucht tatsächlich das Bodenständige und Bleibende als stabilisierenden Gegenpol. Das verträgt sich auch mit einer grundsätzlich liberalen Ordnungspolitik. Die muss nämlich, wenn sie vernünftig und nicht dogmatisch sein soll, immer auch eine Politik der Stabilität sein. Zu dieser Stabilität für moderne Gesellschaften tragen die wenigen noch verbliebenen Bauern und die von ihnen nicht nur bewirtschafteten, sondern auch gepflegten Kulturlandschaften als Rückzugsmöglichkeit bei.

Wenn Landwirtschaftsminister Christian Schmidt nach einer Begründung dafür sucht, warum Bauern des Schutzes durch den Staat bedürfen, so ist diese eben nicht in deren persönlicher Lage zu finden. Mitleid ist kein vernünftiger Subventionsgrund. Die beste Begründung lautet: Es geht nicht um die Subvention bestimmter Unternehmer, sondern um ein gemeinsames Gut. Es geht darum, etwas zu bewahren, an dem wir alle, die gesamte Gesellschaft, ein existentielles Interesse haben. Es ist gut und richtig, wenn Bauern für unsere Kulturlandschaften (und Nutztiere) verantwortlich sind, die diese nicht nur mit ökonomischem, technischem Blick betrachten, sondern vor dem Hintergrund eines oft Jahrhunderte alten Erbes. Wenn das einmal verspielt ist, ist mehr verloren als ein paar Arbeitsplätze.    

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