Vorratsdatenspeicherung Gabriel in der Überwachungsfalle

Wunderbar findet SPD-Chef Gabriel die Aktion von Star-Autoren gegen Massenüberwachung. Solche Lobpreisungen sind für Kritiker aber nur bloße Heuchelei. Denn die SPD will die umstrittene Vorratsdatenspeicherung einführen.

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Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel: Gegen Massenüberwachung, aber für die Vorratsdatenspeicherung. Quelle: dpa

Berlin Peter Gauweiler hat jüngst einen Satz gesagt, der aufhorchen ließ: „Koalitionsverträge sind nichts weiter als Verträge zwischen Parteien, in denen Absichtserklärungen abgegeben werden“, erklärte der CSU-Vize. „Von ihrem Charakter her stellen sie damit nicht mehr als Empfehlungen an die Abgeordneten dar.“ In theoretischer Hinsicht dürfte Gauweiler in dieser Frage kaum jemand widersprechen. Allerdings ist seine Feststellung nur die halbe Wahrheit. Denn das Regierungsprogramm von Union und SPD beinhaltet auch Vorhaben, an deren Umsetzung kein Zweifel besteht. Es geht dabei also nicht darum, ob die vereinbarten Projekte in Gesetzesform gegossen werden, sondern lediglich wie. Hier hakt es an der einen oder anderen Stelle.

Exemplarisch hierfür steht die Vorratsdatenspeicherung. Und ist auch deshalb ein heikles Thema, weil SPD-Chef Sigmar Gabriel Gefahr läuft, sich und seine Partei unglaubwürdig zu machen. Der anlasslosen Datenspeicherung für sechs Monate hatte die SPD im Koalitionsvertrag zugestimmt. Allerdings will man auf europäischer Ebene auf eine Verkürzung der Frist auf drei Monate hinwirken.

Gleich zwei Mal ist es Gabriel in kürzester Zeit gelungen, bei dem Thema in einen Fettnapf zu treten. In einem ARD-„Brennpunkt“ vergaloppierte sich der SPD-Chef, als er die Vorratsdatenspeicherung mit dem Anschlag des Rechtsterroristen Anders Breivik in einem Jugendcamp auf der norwegischen Insel Utöya und in Oslo im Sommer 2011 rechtfertigte. „Durch die dortige Vorratsdatenspeicherung wusste man sehr schnell, wer in Oslo der Mörder war (...) Das hat sehr geholfen“, sagte er damals. Gabriels Behauptung erwies sich aber als falsch. In Norwegen ist die Vorratsdatenspeicherung zwar formell beschlossen, sie ist aber bis heute nicht umgesetzt worden. Die Regierung plant derzeit deren Einführung für das Jahr 2015. Breiviks Festnahme hatte als mit der Vorratsdatenspeicherung nichts zu tun.

Der zweite Fettnapf, in den Gabriel getreten ist, hat mit einer Aktion von mehr als 550 prominenten Autoren aus der ganzen Welt zu tun, die ein Ende von Massenüberwachung durch Regierungen und Unternehmen gefordert haben. An dem am Dienstag in Zeitungen und im Internet verbreiteten Aufruf beteiligten sich Nobelpreisträger wie Günter Grass, Elfriede Jelinek, Orhan Pamuk und J.M. Coetzee sowie Umberto Eco, Margaret Atwood, Joao Ribeiro, Henning Mankell, Richard Ford und David Grossmann. Hintergrund sind vor allem die Berichte über massenhafte Ausspähung durch den amerikanischen Geheimdienst NSA.

Gabriel lobte den Vorstoß. „Das ist eine wunderbare und beeindruckende Aktion“, schrieb er auf seiner Facebook-Seite. Bei den Nutzern kam das allerdings nicht besonders gut an: Sie erinnerten Gabriel daran, dass die SPD in einer Großen Koalition die Telefon- und Internetdaten aller Bürger speichern wolle. Auch im Bundestag wurde Gabriel scharf kritisiert. Was Linken und Grünen besonders bitte aufstößt, ist die Schlussfolgerung, die der SPD-Chef aus der Aktion zieht: „Ein solcher Aufruf darf in der Politik nicht ungehört bleiben“, erklärte er.

Der Vize-Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Jan Korte, sagte dazu: „Ich meine, die Autoren und große Teile der Bevölkerung erwarten substanzvolle Antworten der Politik, keine jovialen und nicht zu Ende gedachten Kommentare. Wer die Vorratsdatenspeicherung durchsetzt, sollte besser still sein. Das ist nur noch heuchlerisch.“ Korte ist auch Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium zur Überwachung der deutschen Geheimdienste.


Gabriel reagiert "verblüfft" auf Facebook-Shitstorm

Der Grünen-Innenexperte Konstantin von Notz unterstrich, dass die Äußerungen Gabriels mit den Plänen der SPD in der Großen Koalition „überhaupt nicht“ zusammengingen. „Wer diesen beeindruckenden Weckruf hört, aber die verfassungsrechtlich hoch problematische Vorratsdatenspeicherung wieder einführen will, hat nichts verstanden“, sagte von Notz Handelsblatt Online. In Zeiten der totalen Überwachung wollten Union und SPD ein weiteres Instrument anlassloser Massenspeicherungen einführen. „Das ist ein bürgerrechtlicher Offenbarungseid mit dem diese Große Koalition startet.“

Der Koalitionsvertrag zeige auch an keiner anderen Stelle, dass SPD und Union aus dem NSA-Skandal irgendetwas gelernt hätten, fügte der Grünen-Politiker hinzu. „Es kann einem bürgerrechtlich nur Angst und Bange werden, bei einer Großen Koalition, die rechtsstaatlich so klein ist.“

Gabriel ging angesichts des Shitstorms bei Facebook gegen ihn in die Offensive. In sehr vielen Kommentaren werde ihm jetzt mit Blick auf sein Lob für die Schriftsteller-Aktion „vorgehalten, das passe nicht zu meiner Haltung zur Vorratsdatenspeicherung“, schreibt er bei Facebook. „Ehrlich gesagt: Mich verblüfft diese Argumentation.“ Dann führt Gabriel das von einem SPD-Parteitag beschlossene Konzept zur Vorratsdatenspeicherung ins Feld.

Bei einem Verdacht auf schwere Straftaten kann demnach von einem Richter entschieden werden, dass auf bei den Providern gespeicherte Daten zugegriffen werden kann. „Wir wollen mehr, als das Bundesverfassungsgericht für eine grundrechtskonforme Umsetzung der EU-Richtlinie vorgegeben hat“, betonte Gabriel. „Vor allem eine deutlich kürzere Speicherfrist – so haben wir das auch im Koalitionsvertrag durchgesetzt.“ Die Praxis der NSA und anderer Geheimdienste sehe dagegen so aus, dass flächendeckend sämtliche Kommunikationsvorgänge erfasst und gespeichert werden – ohne Verdacht auf eine schwere Straftat, ohne Richtervorbehalt, offensichtlich sogar ohne Rechtsgrundlage. Gabriel warnte daher: „Wer die NSA-Praxis mit der Vorratsdatenspeicherung im oben beschriebenen Sinne gleichsetzt, verniedlicht das, was Geheimdienste gegenwärtig treiben.“

Den netzpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Lars Klingbeil, lässt Gabriels Vorwärtsverteidigung kalt. „Ich lehne die Vorratsdatenspeicherung ab“, sagte er Handelsblatt Online. Die Union habe in den Koalitionsverhandlungen massiv auf die Datenspeicherung gedrängt und habe sogar weitergehende Forderungen wie die Internetknoten-Überwachung gehabt. „Mir war wichtig, dass die neue Bundesregierung auf europäischer Ebene auf eine Überarbeitung der EU-Richtlinie drängt.“ Diese Neuverhandlung sei ein „notwendiger Schritt, der in Deutschland mit einer grundsätzlichen Debatte über die Konsequenzen aus dem NSA-Skandal einhergehen würde“, betonte Klingbeil und warnte davor, jetzt vorschnell Gesetze in Angriff zu nehmen. „Ich kann nur raten, das ausstehende Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur EU-Richtlinie abzuwarten“, sagte er.


Wichtiges Gutachten zur EU-Überwachungspraxis

Erwartet wird das Urteil  erst in einigen Monaten. Erste Hinweise auf den Richterspruch könnte es aber schon am Donnerstagvormittag geben. Der Generalanwalt will dann sein Gutachten zur Gültigkeit der bestehenden Richtlinie am EuGH vorstellen. Es geht dabei darum, ob die Pläne gegen die Europäische Grundrechte-Charta verstoßen, die zum Beispiel den Schutz personenbezogener Daten betont. Im Kern geht es also um eine Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit. Es ist offen, ob sich der Generalanwalt dabei gegen die sogenannte Vorratsdatenspeicherung aussprechen wird, ob er sie durchwinkt – oder ob er Änderungen verlangt.

Die EU-Richtlinie aus dem Jahr 2006 sieht vor, dass die EU-Länder die Verbindungsdaten von Telefon- und Internetnutzern für sechs Monate zur Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus speichern müssen, und zwar ohne konkreten Anlass. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Umsetzung der Richtlinie im Jahr 2010 kippte, konnte sich die schwarz-gelbe Koalition trotz mehrfacher Mahnschreiben aus Brüssel nicht auf ein neues Gesetz einigen. Die EU verklagte Deutschland im vergangenen Jahr deswegen schließlich, Deutschland drohen Strafzahlungen.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft plädierte dennoch wie die  SPD dafür, bei der Vorratsdatenspeicherung auf Gründlichkeit, statt auf Schnelligkeit zu setzen. „Es macht keinen Sinn, jetzt einen Schnellschuss zu machen, der möglicherweise nach einer EU-Gerichtsentscheidung wieder korrigiert werden muss“, sagte Verbandschef Rainer Wendt Handelsblatt Online. „Wir haben jetzt einige Jahre, dank der FDP-Verweigerungspolitik, völlig ohne Vorratsdatenspeicherung auskommen müssen, einige Monate Verzögerung zugunsten einer gerichtsfesten Lösung sind akzeptabel.“ Aber, fügte Wendt hinzu, es dürfe „kein Zweifel darüber entstehen, dass die Vorratsdatenspeicherung kommen wird“.

Davon geht der Vize-Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Günter Krings, aus, zumal, wie er betont, bei der Vorratsdatenspeicherung Provider und eben nicht der Staat Verbindungsdaten für sechs Monate speichern dürften. „Wenn es dann Hinweise auf Kinderpornographie oder einen Terroranschlag gibt, sollen die Sicherheitsbehörden die Daten anfordern können“, sagte Krings Handelsblatt Online. „Das ist Ausdruck eines abwägenden Rechtsstaates, der aber die Augen vor existierender Kriminalität nicht verschließt.“ Da sei sich die Union „vom Ergebnis her mit der SPD völlig einig“.


Union verwahrt sich gegen Kritik des Telekom-Chefs

Viel Lob zollte der CDU-Politiker dem Anti-NSA-Aufruf der Schriftsteller. „Die Liste der Unterzeichner ist beeindruckend und ich teile viele Aussagen des Aufrufs“, sagte Krings. Ich sei auch gegen die massenhafte Überwachung der Bürger. „Interessant finde ich an dem Aufruf, dass die Autoren einen Vorschlag von Angela Merkel aus ihrem Acht-Punkte-Plan vom Sommer aufgreifen, nämlich den Internationalen Pakt für besseren Datenschutz“, fügte Krings hinzu.

Linksfraktionsvize Korte nannte den Protest der Autoren richtig und notwendig. Es sei die richtige Zeit, zur Verteidigung der Demokratie aufzurufen. „Täglich erleben wir die Verletzung von Grundrechten, die übrigens unter großen Opfern erkämpft wurden. Gleichzeitig versuchen die Regierungen, in den USA wie auch in der Bundesrepublik, die Geheimdienstaffäre auszusitzen“, sagte Korte. Für ihn sind die Überwachungsexzesse die „logische Folge einer Politik, die einem vermeintlichen Supergrundrecht auf Sicherheit Vorrang vor den Bürgerrechten einräumt und die Demokratie bedroht“. Es wäre daher schön, so Korte weiter, „wenn Sigmar Gabriel bei aller zur Schau getragenen Begeisterung für den Aufruf begreifen würde, dass er selber Adressat ist“. Die Vorratsdatenspeicherung und die Sicherheitspolitik, die er zusammen mit der Union umsetzen wolle, seien ebenso gemeint. „Das Nicht-Handeln der aktuellen und der neuen Regierung ist unfassbar.“

In diese Richtung argumentierte jüngst auch der Telekomchef René Obermann, als er der Bundesregierung und der EU-Kommission vorwarf, die Abhöraffäre um den US-Geheimdienst NSA nur schleppend aufzuklären. „Ich verstehe die Leisetreterei nicht“, sagte Obermann dem Handelsblatt vom Montag. „Es ist fahrlässig, dass so wenig geschieht.“ Es sei Sache der Politik und nicht der Wirtschaft, gegenüber den USA die Einhaltung von Datenschutzstandards einzufordern. „Wenn Unternehmen aus den USA oder jedem anderen Land hier Geschäfte machen wollen, haben sie sich an unsere Standards zu halten.“ Die Spitzeleien, davon ist Obermann überzeugt, hätten das Vertrauen in zwei Grundpfeiler unserer Gesellschaft, die freie Kommunikation und die Privatsphäre, erschüttert. Die Spionageaktivitäten des US-Geheimdienstes seien sogar demokratiegefährdend.

Dem widersprach Unions-Fraktionsvize Krings. „Eine Leisetreterei kann ich nicht erkennen“, sagte der CDU-Politiker. „Man klärt als Bundesregierung am besten dadurch auf, dass man selbst intensiv analysiert, was in Deutschland passiert, und die amerikanischen Partner dafür gewinnt, sich nicht gegenseitig auszuspähen“, betonte er. „Um dabei Erfolg zu haben, kann man nicht immer auf dem offenen Marktplatz agieren.“

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