Der Schock für die Bundesregierung kam kurz vor Mitternacht. Als das amtliche Endergebnis feststand, endete für Union und FDP ein anfangs umjubelter Wahlabend in einer herben Enttäuschung. Nichts ist es mit dem Überraschungssieg des bürgerlichen Lagers nach anscheinend aussichtslosem Kampf. Und auch in der FDP ist die Lage längst nicht beruhigt. Denn die Angst, bei der Bundestagswahl mit Philipp Rösler an der Spitze nicht zu reüssieren, ist durch die 9,9 Prozent in Hannover nicht verschwunden.
In der Präsidiumssitzung am heutigen Montag und anschließend im Vorstand soll Rösler sagen, wie er sich das Team für die Bundestagswahl vorstellt – und welche Rolle er für sich selbst darin vorgesehen hat. Der andere Unglückswurm des Wahlkampfs, der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, bat nach Schließung der Wahllokale wenigstens schon mal bei den Genossen in Hannover um Entschuldigung für seine Patzer. Dort und im Willy-Brandt-Haus kann jetzt etwas Ruhe einkehren, denn der knappe Erfolg an der Leine wirkt stärker fort als die knapp zehn Prozent der FDP.
Da ist er, der Dirk-Niebel-Effekt: Der Entwicklungsminister und mutigste Kritiker des Parteivorsitzenden Rösler hatte diesen Wahlausgang befürchtet; dass die FDP nach dem ersten Jubel erschreckt feststellt: „Oh Gott, wir haben gewonnen.“ Und es dann nicht schaffen würde, Rösler loszuwerden. Denn mit dem Niedersachsen an der Spitze, das ist nicht nur Niebels Überzeugung, werde die Bundestagswahl nicht so erfolgreich zu bestehen sein wie jetzt der Urnengang in Niedersachsen.
Rösler selbst ist sich seit Wochen im Klaren, dass er nicht als Spitzenkandidat in den Bundestagswahlkampf ziehen kann. Er schätzt seine Beliebtheitswerte richtig ein. Er war entschlossen, den herausgehobenen Posten im Team dem Fraktionsvorsitzenden Rainer Brüderle anzutragen, am besten nach einer erfolgreichen Niedersachsenwahl. Insofern wäre das sensationelle Ergebnis von Hannover sogar ideal für einen solchen Schachzug: Rösler könnte aus dem Gefühl und Ansehen relativer Stärke den Weg für Brüderle ebnen, nach dem Motto: Ich habe die FDP durch das Tal geführt, wir haben bei den letzten drei Landtagswahl gut bis sehr gut abgeschnitten, für die Bundestagswahl ist aber Brüderle der beste Mann. Vertraute und Gegner hatten ihm in den vergangenen Tagen dazu geraten. Man wähnte sich auf gutem Weg.
Brüderle zieht Rösler die Beine weg
Wäre da nicht Konkurrent Brüderle mit seinen Wünschen und jüngst Wirrungen. Brüderle hatte nämlich bereits signalisiert, dass ihm die Spitzenkandidatur allein nicht ausreichen würde. Als gewiefter Taktiker und erprobter Macchiavellist hatte der Pfälzer darauf bestanden, nicht unter einem Chef Rösler vorturnen zu wollen. Er beanspruchte auch die Führung der Partei, was mancher Stratege durchaus für verständlich bis selbstverständlich hält.
Auch das wäre mit den sensationellen 9,9 Prozent für Rösler noch ohne allzu großen Gesichtsverlust machbar gewesen, er hätte dadurch auch noch seinen eigenen Verbleib im Wirtschaftsministerium sichern können – hätte Brüderle nicht einen fatalen Fehler gemacht. Am Freitagmorgen, also nur zwei Tage vor der Wahl, verlangte er im Frühstücksfernsehen, den FDP-Bundesparteitag vom Mai vorzuziehen. Das wirkte wie eine Attacke auf den taumelnden Rösler, dem nun der bislang öffentlich äußerst loyale Brüderle praktisch kurz vor der Zielgeraden die Beine wegzog.
„Der Rainer hat es kaputt gemacht“, zürnten etliche Führungsleute der FDP am Wahlabend. Denn nun wird es schwieriger, Rösler zum zumindest partiellen Aufgeben zu bewegen. Denn der will sich eben gerade nicht zwingen lassen. Unberechenbar auch, auf welche Seite sich Christian Lindner schlägt, der Vorsitzende des größten Landesverbandes Nordrhein-Westfalen. Er hat alle Führungsleute seines Verbandes – die Mitglieder von Präsidium, Bundesvorstand und den geschäftsführenden Landesvorstand – zu einer telefonischen Schaltkonferenz um 8 Uhr bestellt, eine Stunde vor dem Beginn der Präsidiumssitzung, in der über das Schicksal der Führung gesprochen werden soll. Will er den Vorsitzenden stützen oder stürzen? Die Eingeladenen jedenfalls sind verwundert: „So etwas hat es noch nie gegeben“, berichtet ein Mitglied des Landesvorstandes.
Niedersächsische Polit-Prominenz
Der ehemalige SPD-Politiker war von 1990 bis 1998 Ministerpräsident in Niedersachsen und von 1998 bis 2005 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Seit dem Ende seiner politischen Karriere hat er als Lobbyist und Rechtsanwalt verschiedene Positionen inne. Unter anderem ist er Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG.
Christian Wulff war von 2003 bis 2010 niedersächsischer Ministerpräsident. Im Juni 2010 wurde er zum zehnten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Dieses Amt bekleidete er bis Anfang 2012. Er traf zurück, nachdem gleich mehrere Affären (Ungereimtheiten beim Hauskredit, Drohanruf bei der "Bild"-Zeitung) das Amt beschädigten.
Von 1990 bis 1994 war der Grünen-Politiker und gebürtige Bremer niedersächsischer Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten im Kabinett Schröder, von 1998 bis 2005 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Seit 2009 ist er Fraktionsvorsitzender der Bundestagsfraktion der Grünen und einer der Spitzenkandidaten der Bundestagswahl 2013.
Nur etwa ein Jahr nach Gerhard Schröders Wahl zum Bundeskanzler, wurde Sigmar Gabriel Ministerpräsident von Niedersachsen. Das Amt hatte der SPD-Politiker bis 2003 inne. Von 2005 bis 2009 war er Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Seit 2009 ist er Parteivorsitzender der SPD.
2003 wurde Von der Leyen Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit im Kabinett Wulff. Bis 2005 saß sie im niedersächsischen Landtag. Seit 2005 ist sie unter Kanzlerin Merkel Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Im Jahr 2000 wurde Rösler nach einigen Jahren bei den Jungen Liberalen Generalsekretär der FDP in Niedersachsen. Im Februar 2009 wurde er Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr sowie stellvertretender Ministerpräsident von Niedersachsen im Kabinett Wulff. Im Herbst 2009 wechselte er nach Berlin. Knapp zwei Jahre lang war Rösler Bundesminister für Gesundheit, im Mai 2011 wurde er zum Bundesminister für Wirtschaft und Technologie ernannt und gleichzeitig zum deutschen Vizekanzler. Rösler ist zudem Bundesvorsitzender der FDP.
In der Zeit des Nationalsozialismus war er Mitglied der SPD und unterstützte seine Parteigenossen. Dafür wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, anschließend verbrachte er mehrere Monate im KZ Esterwegen. 1948–1949 war er als Mitglied des verfassunggebenden Organs, dem Parlamentarischen Rat, an der Gestaltung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beteiligt und ist so als einer der "Väter der Grundgesetzes" bekannt. Von 1952 bis 1955 hatte Diederichs maßgeblichen Einfluss auf die Neugestaltung der niedersächsischen Gemeindeverfassung. 1957 wurde er Sozialminister von Niedersachsen, von 1962 bis 1970 Ministerpräsident. Diederichs starb am 19. Juni 1983.
Nun geht sie in der FDP wieder um, die Angst vor dem Soufflé. Denn der tolle Wahlerfolg könnte wie die empfindliche Süßspeise schon bald wieder in sich zusammenfallen, falls es Rösler und Co. nicht gelingt, den Schub des Wahlergebnisses für eine überzeugende Präsentation ihrerselbst und ihrer Arbeit zu nutzen. Denn schon nach den überraschend erfolgreichen Landtagswahlen im Frühjahr 2012, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, hatte die FDP auch im Bundeschnitt einen kurzen Hupfer gemacht, war dann aber auf die Mickerwerte von drei Prozent zurückgefallen. Das, so fürchten Röslers Kritiker, werde auch diesmal wieder geschehen.
Gefühlsschwankungen bei der CDU
Doch die Wahrscheinlichkeit, den Parteitag schon in ein paar Wochen abzuhalten, ist gering. Denn dazu müsste der gesamte Vorstand geschlossen zurücktreten. Sehr unwahrscheinlich, zum der Schleswig-Holsteiner Wolfgang Kubicki und das Präsidiumsmitglied Holger Zastrow aus Sachsen bereits angekündigt haben, dabei nicht mitzumachen. „Welcher Bürger sollte das denn verstehen, dass wir sensationell zehn Prozent holen und deshalb zurücktreten.“ Also plädiert er dafür, jetzt mit Ruhe zu handeln und den Parteitag ganz regulär im Mai abzuhalten. Der Nebeneffekt: Angesichts der immer kürzerfristig entscheidenden Wähler könnte die Zeit dann immer noch reichen, über die Wahlkampfmannschaft zu entscheiden. Und bis dahin wäre auch klar, ob das Rösler-Soufflé hält.
Gefühlsschwankungen, wie sie die FDP in den nächsten Tagen und Wochen erleben wird, durchzitterten die Unionsleute am Wahlabend binnen Stunden. Nach einer ersten Schrecksekunde über die 36 Prozent entspannten sich die CDU-Politiker im Berliner Konrad-Adenauer-Haus wieder, als sie sahen, dass das bürgerliche Lager in der 18-Uhr-Prognose auf kaum erwartete 46 Prozent kam. Dass dabei der schon totgesagte Juniorpartner FDP auf sensationelle zehn Prozent hochgestuft wurde, ging natürlich nur mit Leihstimmen von der CDU. 79 Prozent der FDP-Wähler haben mit ihrer Erststimme die CDU gewählt, ermittelte ein Meinungsforschungsinstitut. "Da waren wir wohl zu sehr Samariter", seufzte ein CDUler, sechs bis acht Prozent für die FDP hätten doch auch völlig gereicht. Doch offenbar wollten die bürgerlichen Wähler in Niedersachsen sichergehen, dass der bisherige Regierungschef David McAllister in einer schwarz-gelben Koalition weiterregieren könne und die FDP über die Fünf-Prozent-Hürde kommt.
Für CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe war es denn "das klare Signal für das christliberale Bündnis", das er in seiner ersten Wahlanalyse zu Niedersachsen hervorhob. Und natürlich der Hinweis, man habe das erste Ziel, die stärkste Fraktion zu werden, erreicht. Zwar liegen die 36 Prozent deutlich unter den zuletzt erwarteten 38 bis 40 Prozent, doch war es eben die Hilfsmission "Zweitstimme für die FDP", die für das optisch etwas unangenehme CDU-Ergebnis sorgte. Und im Übrigen habe man vor einigen Monaten in den Wahlumfragen sogar noch hinter der SPD gelegen, betonte Gröhe.
Lerneffekt für die CDU: Zweitstimme für FDP lohnt nicht
Gerade die aufsteigende Entwicklung der vergangenen drei, vier Monate lässt die Union frohlocken. Noch im Sommer 2012 hatte die CDU unter heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen gelitten. Große Teile der Partei waren gegen den Atomausstieg, waren gegen die Präimplantationsdiagnostik, haderten mit Papst-kritischen Worten, dem Betreuungsgeld, Lohnuntergrenzen oder der Abschaffung der Wehrpflicht. Doch Parteichefin Angela Merkel liess sich nicht beirren und hielt an ihrem Kurs fest. In Sachen Euro hatte die Kanzlerin überdies das Glück, dass sich die Lage in den südlichen Peripherieländern spürbar beruhigt hat.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Michael Grosse-Brömer, verwies auf die 42 Prozent, bei denen die Union bundesweit derzeit stehe. Und der Koalitionspartner FDP solle bis September, wenn im Bund gewählt werde, endlich aus eigener Kraft ein ordentliches Ergebnis erzielen, betonte CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt am gestrigen Wahlabend. So viele Leihstimmen wie diesmal in Niedersachsen werde es dann nicht mehr geben, so die Drohung. Auch eine Partei, die das christliche im Namen trägt, kann schließlich nur ein begrenztes Maß an parlamentarischer Nächstenliebe verkraften. Die Wahlparty bei der CDU hatte sich längst aufgelöst, als mit dem amtlichen Endergebnis die beruhigenden Gefühle des frühen Abends zerstoben.
Lag Schwarz-Gelb in den ersten Hochrechnungen noch knapp vorn, so bröckelten die Prozente im Verlauf des Abends zehntelweise ab. Am Ende blieb ein Rückstand auf Rot-Grün von 0,3 Prozentpunkten – und jener eine Sitz im Landtag zu Hannover, der nun über die Regierungsbildung entscheidet.
Die Niederlage von CDU und FDP wird nun zum Menetekel für die Bundestagswahl. Denn nun spricht der erste Anschein dafür, dass es nicht mehr für eine bürgerliche Mehrheit langt, schon gar nicht, wenn – anders als in Niedersachsen mit nur vier Parteien – auf Bundesebene mindestens fünf Gruppierungen im Plenum sitzen (die Linkspartei kommt sicher in den Bundestag, weil dafür neben dem Mindestmaß von fünf Prozent punkten auch drei Direktmandate genügen).
Zwar ist es strittig, ob sich der noch amtierende Ministerpräsident David McAllister „verzockt“ hat. Denn ohne die geduldete Zweitstimmenkampagne zugunsten der FDP hätte die CDU zwar sicher über 40 Prozent der Stimmen eingeheimst, aber im Parlament läge sie als Opposition (dann ohne die FDP) viel deutlicher hinter der rot-grünen Regierung. Anders ausgedrückt: Ohne die Zweitstimmenkampagne der FDP wäre McAllister viel deutlicher abgewählt worden.
Gleichwohl haben CDU und CSU jetzt gelernt, dass es auch mit Stütze für den bevorzugten Partner nicht reichen muss. In der Konstellation der Bundestagswahl mit mehr Konkurrenz heißt das aber, dass die Union nun keine Stimme mehr zu verschenken hat, will sie erreichen, dass nicht ohne oder gegen sie regiert werden kann. „Wir kommen in eine strategisch schwierige Lage“, stöhnt denn auch ein prominenter FDP-Stratege. „Der Lerneffekt bei der CDU ist, dass sich Zweitstimmen für die FDP nicht lohnen.“
Das ist die eigentliche Quintessenz des Wahltages in Niedersachsen: Das schwarz-gelbe Lager, das sich gerade erst richtig formiert hatte – unter Abkehr von den letzten sozialliberalen Anwandlungen in der FDP und unter Verzicht auf schwarz-grüne Träume bei der CDU – dieses schwarz-gelbe Lager droht emotional zu zerbrechen. Das heißt nicht, dass die Koalition in Berlin nun vorzeitig enden würde. Aber der Kitt zwischen den Bürgerlichen bröckelt.