Der Videoclip, mit dem sich die AfD derzeit Hoffnung zuspricht, dauert genau 58 Sekunden. Zwei Bergmänner treffen nach ihrer Schicht im Umkleideraum aufeinander. Einem fällt das AfD-Wahlprogramm für Nordrhein-Westfalen aus dem Spind. „Keine Ahnung, wo das herkommt“, murmelt er. Da hält ihm der andere das gleiche Programm hin: „Wegen mir musst du dir da keine Gedanken machen“, sagt er. „Denk nur dran: In der Wahlkabine bist du ganz für dich allein.“ Es folgt ein Knallgeräusch, dann sagt eine Stimme: „Sie müssen sich nicht outen – ein Kreuzchen genügt.“ Ein Gitarrenriff ertönt. Der Slogan „Unser Programm heißt Realität“ beendet den Clip.
Die Sache mit der Realität: Zwischen ihr und dem Wunschdenken klafft bei der AfD seit Wochen eine Lücke, die immer größer zu werden droht. Statt bei 15 Prozent, wie sie die neue Frontfrau Alice Weidel als Ziel für den Bund ausgegeben hat, liegt die AfD in Umfragen derzeit bei sieben bis zehn Prozent. Statt der versprochenen Einigkeit gibt es immer wieder Sticheleien. Statt sich auf eine Linie zu verständigen, provoziert die Dresdner AfD durch eine gemeinsame Demo mit Pegida – obwohl sich die AfD-Parteiführung gegen eine Zusammenarbeit ausgesprochen hat.
Mit einem ordentlichen Ergebnis in Nordrhein-Westfalen könnte die Partei die Diskussion um ihre aktuelle Ermattung rasch beenden. Aber auch dort droht Ärger. In der TV-„Wahlarena“ wirkte Spitzenkandidat Marcus Pretzell fahrig – und wurde vom Publikum ausgebuht. Mit seinem Co-Chef Martin Renner liefert sich Pretzell einen Dauer-Zwist. Die Umfragen verorten die NRW-AfD zwischen sechs und acht Prozent.
Die Gesichter der AfD
Geboren in Dresden, promovierte Chemikerin und Unternehmerin, Bundesvorsitzende der AfD. Mutter von vier Kindern, liiert mit dem AfD-Landeschef von Nordrhein-Westfalen, Marcus Pretzell: Das ist Frauke Petry. Sie gilt als pragmatisch und ehrgeizig. Auch wenn sie verbal gerne Gas gibt – inhaltlich steht Petry eher in der Mitte der Partei.
Björn Höcke (45) und Alexander Gauland (76) haben im November 2015 gemeinsam „Fünf Grundsätze für Deutschland“ veröffentlicht. Darin wettern sie gegen die „multikulturelle Gesellschaft“ und behaupten, „die politische Korrektheit liegt wie Mehltau auf unserem Land“.
Meuthen ist geboren in Essen, promovierter Volkswirt, seit 1996 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Kehl (Baden-Württemberg), Bundesvorsitzender der AfD, war Spitzenkandidat seiner Partei bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg und ist seit Mai 2016 Landtagsabgeordneter; er ist verheiratet und hat fünf Kinder. Meuthen gehört zu den wenigen prominenten Vertretern des liberalen Flügels, die nach dem Abgang von Bernd Lucke in der AfD geblieben sind.
Sie ist geboren in Lübeck, Jurastudium in Heidelberg und Lausanne (Schweiz), Rechtsanwältin, stellvertretende Bundesvorsitzende und AfD-Landesvorsitzende in Berlin, seit 2014 im EU-Parlament, verheiratet. Gilt als ultrakonservativ.
Marcus Pretzell (43) ist geboren in Rinteln (Niedersachsen), Jurastudium in Heidelberg, Rechtsanwalt und Projektentwickler, seit 2014 Vorsitzender der AfD in Nordrhein-Westfalen, Vater von vier Kindern, seit 2016 verheiratet mit Frauke Petry. Der Europaabgeordnete hat die AfD als „Pegida-Partei“ bezeichnet. Parteifreunde rechnen ihn aber nicht zum rechtsnationalen Flügel.
Dabei könnte Marcus Pretzell ein gutes Ergebnis gerade bestens gebrauchen. Für ihn wäre es ein doppelter Sieg: Zum einen hätte er den Abwärtstrend der Partei gestoppt – zum anderen den Realo-Kurs, den er mit Partnerin Frauke Petry verteidigt, gestärkt.
Eine Hoffnung sind dabei die Arbeiter aus dem Ruhrgebiet. Sie soll der ehemalige SPD-Politiker und Bergmann Guido Reil aus Essen an die Wahlurne bringen. Seit Wochen tigert der AfD-Neuling dafür von Wahlkampfbühne zu Wahlkampfbühne. „Gerade die Arbeitnehmerschaft fühlt sich von der SPD verraten und verkauft, denn für ihre Stammklientel macht die Partei nichts mehr“, sagt Reil. Er baut derzeit eine Arbeitnehmervereinigung innerhalb der AfD auf.
Der Sozialwissenschaftler Sebastian Friedrich hat in seinem gerade erschienenen Buch über die AfD gezeigt, dass diese Hoffnung nicht ganz unbegründet ist. Der neuen Partei gelinge es mittlerweile verstärkt, ehemalige SPD-Wähler anzusprechen. Während die AfD in ihrer Anfangszeit für Erwerbslose und Arbeiter eher uninteressant war, sei sie seit 2016 bei den Arbeitern und Arbeitslosen stärkste Kraft geworden.
Als Beispiele führt Friedrich die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt oder auch in Baden-Württemberg an. Die AfD versuche vermehrt, auch in sozialen Fragen Antworten zu finden.
Auch der Berliner Politikwissenschaftler Carsten Koschmieder beobachtet überdurchschnittlich viele AfD-Wähler unter den Arbeitern. Er glaubt, dass viele Wähler nicht unbedingt für eine Partei stimmen, sondern über Themen abstimmen, die gerade öffentlich diskutiert werden. Lange Zeit war das die Flüchtlingspolitik – bei der viele Wähler die Positionen der AfD besser fanden als die der etablierten Parteien.