Der zweite Trugschluss der Wahlkämpfer ist dann der Glaube, dass die Spätentscheider allesamt noch sehr lange zwischen mehreren Parteien schwankten (Unentschlossene). Denn es gibt noch zwei andere Gruppen. Manche Spätentscheider spielen mit einer ganz anderen Option: wählen oder nicht wählen. Hinzu kommen Parteiwechsler, die erst angeben, sicher die eine Partei wählen zu wollen und dann zu einer anderen wechseln. Wie wir gesehen haben, wird der Unentschlossenen-Anteil zudem wohl deutlich überschätzt, die beiden anderen Gruppen spielen entsprechend eine deutlich größere Rolle. Aus der Mannheimer Studie geht hervor, dass rund 39 Prozent der Wahlberechtigten einen Monat vor der Wahl etwas anderes angeben, als sie dann auch wählen. Als „unentschlossen“ können dabei nur 14 Prozent gelten, 23 Prozent sind hingegen Parteiwechsler, die restlichen zwei Prozent noch unmobilisierte Wähler.
So heterogen wie die Gruppe ist, so unterschiedlich sind auch ihre Herangehensweisen an die Wahl. Gerade Unentschlossene sind tendenziell Menschen, die kaum Interesse an Politik haben. Sie schwanken nicht, weil Sie sich nicht entscheiden können, sondern weil Sie gar nicht wissen, was zur Auswahl steht. Sie haben oft nur schwache Einstellungen gegenüber den Parteien und entscheiden sich daher erst spät, ob sie überhaupt zur Wahl gehen und welche Partei sie wählen.
Ganz anders die Parteiwechsler. Sie sind tendenziell politisch interessierte Bürger, die im Laufe des Wahlkampfs aber die bevorzugte Partei wechseln. Meistens geschehen diese Wechsel zwischen Parteien desselben politischen Lagers. Die Gründe können strategischer Natur sein oder tatsächliche Wahlkampfeffekte.
3. Spätentscheider können die Wahl drehen
Aus diesen Tatsachen ergibt sich der Kardinalfehler vieler Wahlkampfanalysen. Sie deuten nach der Wahl den Anteil Spätentschiedener als ein Zeichen dafür, wie groß das Potenzial für einen gegenteiligen Ausgang noch gewesen wäre. Frei nach der Logik: Wenn 25 Prozent der Wähler sich erst in der Kabine für eine Partei entschieden haben, dann hätte der Wahlverlierer genau diesen Anteil noch zu sich ziehen können. Das aber stimmt nicht. Denn der Anteil der Spätentscheider ist ja kein feststehender Teil, den es zu überzeugen gilt. Weil es verschiedene Typen und Gründe für späte Wahlentscheidungen gibt, steht zu Beginn des Wahlkampf noch gar nicht fest, wer Spätentscheider sein wird und wer nicht.
Späte Wahlentscheidungen sind daher nicht eine Bedingung für die Wirkung vom Wahlkämpfen, sondern in vielen Fällen das Ergebnis einen gelungenen Wahlkampfs. Für die Parteien heißt das auch, dass sie ihre Strategien in den letzten Wochen vor der Wahl überdenken sollten. Für die politischen Kräfteverhältnisse sind vor allem die Unentschlossenen von Bedeutung, die aber meist nur schwache Einstellungen gegenüber den Parteien haben und parteilich ungebunden sind.
Die Parteien versuchen, diese Gruppe durch Abgrenzung vom politischen Gegner zu überzeugen. Sie werden jedoch zahlenmäßig überschätzt und wegen ihres relativ geringen Interesses schwer zu erreichen. Um Wähler zu Parteiwechslern und damit zu einem anderen Typ Spätentscheider zu machen, wäre eher die Betonung von Unterschieden zum potentiellen Koalitionspartner zielführend. Potentielle Nichtwähler schließlich müssten von der Bedeutung der Wahl und der Stimmabgabe für eine Partei überzeugt werden.