Seit Monaten haben wir den Verlauf der Umfragen beobachtet und auf ihre Stärken und Schwächen untersucht, die wissenschaftlichen Vorhersagen über die Bundestagswahl haben wir nahezu umfassend ausgewertet. Auch im Netz haben wir das Verhalten der Parteien beobachtet, außerdem haben wir langfristige Wähleranalysen studiert und selbst vorgenommen. Aus all diesem Wissen wollen wir nun zehn Thesen ableiten und begründen, wie aus unserer Sicht wahrscheinlich die Wahl ausgehen wird. Die Thesen sind zum Teil sehr kontrovers, zum Teil alles andere als sicher – aber genau darin liegt der Reiz.
1. Schwarz-Gelb erreicht keine eigene Mehrheit
Das Rennen sei völlig offen, auf diese Deutung haben sich die meisten Institute geeinigt. Mit jeder einzelnen Umfrage kann man kurz vor der Wahl tatsächlich nicht sehr viel anfangen. Schaut man sich die Umfragen aller Institute zusammen an, werden jedoch Tendenzen erkennbar. Mit Ausnahme der Forschungsgruppe Wahlen sehen in der letzten Projektion vor der Wahl die großen Institute keine Mehrheit für Schwarz-Gelb – entweder es werden genau gleiche Anteile für die amtierende Koalition und Rot-Rot-Grün vorhergesagt oder ein minimaler Vorsprung von SPD, Grünen und der Linken. Auch wenn die Abstände sehr knapp sind und sich innerhalb des statistischen Fehlers bewegen, so wird in diesem Fall aus vielen schwachen Wahrscheinlichkeiten eine etwas stärkere.
So ergibt die Wahlsager-Projektion inzwischen nur noch eine Wahrscheinlichkeit von 29 Prozent für eine schwarz-gelbe Mehrheit. Einschränkend ist allerdings zu sehen, dass sich unter der Annahme, dass die FDP (wie wir und die meisten Beobachter glauben) auf jeden Fall ins Parlament kommt, die Wahrscheinlichkeit ein Stück weit zugunsten von Schwarz-Gelb verschiebt (auf 43 Prozent). Selbst unter dieser Annahme spricht die Wahrscheinlichkeit aber eher für Rot-Rot-Grün.
Wahrscheinlichkeit: 71 Prozent bzw. 57 Prozent (wenn FDP-Einzug als sicher angesehen wird)
2. Die Union bekommt weniger als 40 Prozent der Stimmen
Die CDU ist ein schwieriger Fall. Einerseits ist sie zuletzt in den Umfragen etwas abgesackt, anderseits sind die Beliebtheitswerte von Kanzlerin Angela Merkel nach wie vor überragend. Dennoch glauben wir, dass sie unter der Schwelle von vierzig Prozent bleiben wird. Das deckt sich zum einen mit der Wahlsager-Projektion und alternativen Prognoseverfahren wie den Expertenbefragungen von „Pollyvote“ und den Prognosemärkten. Zudem wurde die CDU in den Umfragen 2005 und 2009 vor der Wahl leicht überschätzt, was dafür spricht, dass die Partei ein gewisses Mobilisierungsproblem hat. Trotz aller Absagen an eine Zweitstimmen-Kampagne für die FDP ist auch damit zu rechnen, dass ein paar Fans der schwarz-gelben Koalition ihr Kreuzchen lieber bei den Liberalen machen, aus Sorge dass die es sonst nicht ins Parlament schaffen könnten.
Gegen diese These spricht vor allem, dass die meisten Institute das CDU-Problem inzwischen selbst erkannt haben. Um die Partei nicht erneut zu überschätzen, korrigieren sie die Zustimmungswerte offenbar bereits deutlich nach unten, so lag die Partei in den Rohdaten der Forschungsgruppe Wahlen zuletzt noch bei 44 Prozent. Hinzu kommen die historischen Wahlergebnisse der CDU, die auf einen Wählerstock schließen lassen, der durchaus für 40 Prozent gut zu sein scheint. Bis 1994 landete die Partei nie unter dieser Marke, außerdem sind die Voraussetzungen 2013 exzellent: Die Wirtschaft brummt, die Kanzlerin ist beliebt und der Koalitionspartner unbeliebt. Dennoch glauben wir in diesem Fall an den Trend der letzten Wahlkampfwochen, die erste Ziffer des CDU-Ergebnisses wird eine 3 sein.
Wahrscheinlichkeit: 70 Prozent
SPD und Grüne
3. Die SPD erreicht mehr als 26 Prozent
Die wichtigste Basis unserer Vorhersage ist auch hier die Wahlsager-Projektion. Da verzeichnete die Partei zuletzt einen leichten Trend nach oben, der letzte Wert liegt über 26 Prozent. Auch hier wird die These von anderen Erhebungen gestützt, in Expertenbefragungen schafft die Partei diese Hürde locker. Auch für diese These gibt es aber ernstzunehmende Gegenargumente: Da ist zum einen das deutlich schlechtere Wahlergebnis 2009, auch hier wurde der Partei in den letzten Wochen ein leichter Aufwärtstrend unterstellt, den es so wohl gar nicht gab.
Außerdem sind die Umfrageergebnisse hier in sich ziemlich widersprüchlich, in den Prognosemärkten erreicht die Partei mal mehr, mal weniger als 26 Prozent. Vor allem aber könnte es die Partei auf den letzten Metern schwächen, dass eine Mehrheit für Rot-Grün nahezu aussichtslos ist, was die Mobilisierung verringern könnte. Wir glauben aber, dass die zuletzt leicht steigende Beliebtheit des Kandidaten Steinbrück und vielleicht auch der Wunsch nach einer großen Koalition am Ende den Ausschlag geben werden.
Wahrscheinlichkeit: 64 Prozent
4. Die Grünen erreichen ein schlechteres Ergebnis als 2009
Wir glauben an den Trend. Und der spricht gegen die Grünen. In der letzten Wahlsager-Projektion (9,7 Prozent) liegen sie nur einen Prozentpunkt unter ihrem Wahlergebnis von 2009 (10,7 Prozent). Die Grünen kommen aber von zeitweise stabilen 14 Prozent, anders als die meisten Parteien haben sie in den letzten Wochen vor der Wahl fast ausschließlich negative Schlagzeilen produziert. Vor allem aber ist die Situation diesmal eine völlig andere als 2009: Während vor vier Jahren die meisten Menschen eine große Koalition abwählen wollten, nehmen sie diese 2013 zumindest billigend in Kauf. Da scheint es für Sympathisant des gemäßigt linken Spektrums womöglich sinnvoller, SPD zu wählen.
Für die Grünen spricht zum einen die Widersprüchlichkeit der Umfrageergebnisse, drei Institute sahen zuletzt immerhin noch 11 Prozent Zustimmung. Zudem muss man den Grünen ein immenses Mobilisierungspotenzial unterstellen, 2011 wollten zeitweise über 20 Prozent die Partei wählen. Das wird aus unserer Sicht aber nicht reichen, um den negativen Trend zu drehen.
Wahrscheinlichkeit: 85 Prozent
FDP und Piraten
5. Die FDP schafft den Wiedereinzug in den Bundestag
Trotz des Debakels in Bayern scheint uns diese Vorhersage inzwischen eine recht zuverlässig zu sein. Das liegt zum einen an den Umfragen, in denen sich die Partei zwar nie besonders deutlich von der Einzugshürde absetzen kann – aber sie eben auch nie unterschreitet. Auch bei den unkonventionellen Prognoseverfahren schafft die Partei diese Hürde stets. Zugleich sind diese Umfragen aber auch ein Punkt, den man gegen die FDP ins Feld führen kann. Vier der großen Institute verheißen der einen knappen Einzug ins Parlament mit fünf Prozent der Stimmen. Mit anderen Worten: Sie halten es für beinahe genauso wahrscheinlich, dass die Partei den Einzug nicht schafft.
Zudem hat die Partei sich zuletzt ziemlich immun gegenüber Umfragen gezeigt: Mal landete sie deutlich über den Projektionen (Niedersachsen), in anderer Ländern fiel sie dafür deutlich aus dem Landtag heraus. Auch wissen wir nicht, ob die Institute die Partei nur auf Basis der schlechten Schätzerfahrungen (Niedersachsen) nach oben korrigieren. Schließlich war die FDP seit der Gründung der Bundesrepublik noch in jedem Bundestag vertreten. Bei der Forschungsgruppe Wahlen, die der Partei zuletzt sechs Prozent zutraute, gaben die Rohdaten nur fünf Prozent her.
Dennoch glauben wir, dass die Argumente für die FDP stärker wiegen. Wie bereits erwähnt wird die CDU Leihstimmen aller Voraussicht nach nicht komplett verhindern können.
Wahrscheinlichkeit: 69 Prozent
6. Die Piraten scheitern an der Fünfprozenthürde
Diese These lässt sich einfacher als die meisten anderen begründen. Die Piraten hatten seit gut einem Jahr keine Zustimmungswerte mehr über der Fünfprozenthürde, auch ist dieses Mal nicht zu erkennen, dass die Partei wie bei ihren Wahlerfolgen in NRW Wählergruppen jenseits ihres angestammten Milieus ansprechen könnte. Wir haben zudem gezeigt, dass die Wähler inzwischen zum Großteil ein sehr negatives Bild von den Piraten haben. In allen Umfragen liegen sie zurzeit bei höchstens drei Prozent.
Wahrscheinlichkeit: sehr hoch
AfD und Wahlbeteiligung
7. Die AfD scheitert an der Fünfprozenthürde
Eine der umstrittensten Fragen in diesem Wahlkampf ist wohl das Abschneiden der Alternative für Deutschland (AfD). Das liegt vor allem daran, dass die junge Partei noch an keiner Abstimmung teilgenommen hat. Den Instituten (und uns) fehlt daher die Grundlage, um von den geäußerten Zustimmungswerten auf reale Ergebnisse zu schätzen. Für die AfD spricht zum einen ihre hohe Medienpräsenz. Sie haben dadurch in den vergangenen Monaten eine überproportional hohe Aufmerksamkeit erzielt und zudem eine sehr aktive Internetgemeinde. Alle Versuche, davon auf die Stimmung in der Gesamtbevölkerung zu schließen, sind aber bisher gescheitert.
Zudem haben sie ein klares Alleinstellungsmerkmal (Euro-Austritt), dass aber tendenziell an Bedeutung eingebüßt haben sollte. In einzelnen Umfragen ist ein Einzug ins Parlament inzwischen zumindest nicht mehr auszuschließen.
Aus unserer Sicht spricht dennoch mehr dafür, dass es nicht reichen wird. Dafür spricht zum einen die Mehrzahl der Wahlumfragen, auch die Expertenbefragungen und viele Prognosemärkte sehen die Partei allesamt außerhalb des Parlaments. Zudem zeigen sich die Wähler bei Bundestagswahlen (wo es um viel geht) tendenziell weniger offen für neue Parteien als bei anderen Wahlen. Wir können uns bei der AfD aufgrund der besonders großen Unsicherheit nicht in dem Maße festlegen wie bei anderen Thesen, gehen aber davon aus, dass es am Ende nicht reichen wird.
Wahrscheinlichkeit: mittel
8. Die Wahlbeteiligung liegt über 70 Prozent
Die meisten Beobachter sind skeptisch, was die Wahlbeteiligung betrifft. Bei den letzten Wahlen sank sie jeweils ab, manche sehen das Land auf einer Rutschbahn zu einer Gesellschaft der politischen Ignoranten. Wir sind da nicht so skeptisch. Über längere Zeiträume betrachtet hat die Wahlbeteiligung sich nicht linear, sondern eher zyklisch verhalten. Oft ging es runter, aber manchmal (1998) auch wieder rauf. Das wird gerne auf die Polarisierung des jeweiligen Wahlkampfes zurückgeführt, doch die ist schwer zu messen. Wenn man den Medienschlagzeilen folgt, dann hat der Wahlkampf zuletzt etwas an Fahrt aufgenommen. Aber was heißt das schon? Aus unserer Sicht zumindest, dass die Polarisierung 2009 so gering war, dass ein weiterer Abfall vermieden werden könnte. Zudem wird ein recht knapper Wahlausgang erwartet, auch das könnte die Menschen an die Urne treiben. Vielleicht ist auch die Bayernwahl, bei der es einen deutlichen Anstieg gab, als Signal dafür zu deuten, dass das politische Interesse 2013 größer ist als in den Jahren zuvor.
Das sind alles keine starken Argumente und es gibt bisher auch keine wissenschaftlichen Versuche, die Wahlbeteiligung vorherzusagen. Aber in der Summe sehen wir doch genügend Anhaltspunkte, um davon auszugehen, dass die Wahlbeteiligung nicht deutlich unter den Wert von 2009 (70,8 Prozent) sinkt.
Wahrscheinlichkeit: hoch
Zahl der Abgeordneten und die Wahrscheinlichkeit, dass der Wahlsager richtig lag
9. Im nächsten Bundestag werden weniger als 650 Abgeordnete sitzen
Auch das ist eine These gegen den publizistischen Trend. Viele haben argumentiert, dass der Bundestag deutlich größer wird, weil die Überhangmandate 2013 erstmals komplett ausgeglichen werden. Würde genauso gewählt wie 2009, würde der Bundestag auch tatsächlich auf gut 670 Sitze anwachsen. Wir haben aber in einer Kolumne aktuelle Prognosen auf die Sitzzahl umgerechnet und kommen zu dem Ergebnis, dass es aller Voraussicht nach nicht zu einem solchen Wachstum kommen sollte. Der entscheidende Faktor sind dabei CDU und vor allem die CSU. Die beiden Parteien holten in der Vergangenheit die meisten Überhangmandate.
Nach dem neuen Wahlrecht werden jetzt alle Fraktionen proportional in dem Maße vergrößert, in dem die Partei mit der größten Quote an Überhangmandaten ihren Sitzanteil nach Zweitstimmen übertrifft. Sollte also die CSU sehr wenige Zweistimmen holen (z.B. 35 Prozent in Bayern), könnte der Bundestag extrem groß werden. Abgeschwächt gilt das auch für die CDU. Dafür müsste das CDU/CSU-Ergebnis aber wohl zumindest in den Bereich von 35-36 Prozent fallen, was momentan recht unwahrscheinlich ist.
Wahrscheinlichkeit: hoch
10. Nicht alle unsere Thesen werden stimmen
Zum Abschluss noch ein bisschen Wahrscheinlichkeitsrechnung. Auch wenn wir davon ausgehen, dass es für alle einzelnen Thesen eine gute Chance besteht, dass sie eintreten, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass sie allesamt stimmen. Ein Beispiel: Wenn die Wahrscheinlichkeit für eine These bei 70 Prozent liegt und für eine zweite bei 50 Prozent, dann liegt die Chance, dass beide eintreten, nur bei (0,7*0,5=0,35) 35 Prozent. Für unsere insgesamt neun Thesen heißt das: Selbst wenn jede Wahrscheinlichkeit bei 80 Prozent läge, haben wir nur eine Chance von 13,4 Prozent, dass alle Thesen eintreten.