Endlich hat Peer Steinbrück (SPD) ein Mittel gefunden, wie er den verkorksten Wahlkampf doch noch für sich entscheiden kann. Wenn die Wahlbeteiligung deutlich steige, auf 77 oder 78 Prozent, „dann wird die SPD die Wahl gewinnen“, so Steinbrück auf einer Parteiveranstaltung am Wochenende. Die Aussage ist gewagt, doch sie zeigt: Selten war die Wahlbeteiligung so in aller Munde wie vor dieser Bundestagswahl. Mit der Bertelsmann-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung haben in den vergangenen Wochen zwei große Institutionen umfassende Studien dazu vorgelegt, Politiker nehmen bei jeder Gelegenheit Bezug auf das Thema.
Doch trotz aller Studien bleiben die Nichtwähler noch ein weitgehend unbekanntes Wesen. Zwar lässt sich inzwischen einiges über ihre sozialen Hintergründe sagen – sie kommen eher aus der unteren Schicht, sind unterdurchschnittlich gebildet, verdienen weniger als der Durchschnitt und in ihrem Umfeld hat die Wahl kaum eine Bedeutung – doch über die Gründe für das Fernbleiben von der Wahlurne weiß man herzlich wenig.
Dabei sind aus der Perspektive des Wahlkämpfers weniger die Menschen interessant, die sich schon früh festlegen, nicht zur Wahl zu gehen. Die sind wahrscheinlich ohnehin verloren. Wer die Wahl gewinnt, entscheidet sich stattdessen an den Menschen, die grundsätzlich bereit sind, zur Wahl zu gehen. Gerade diese Gruppe lässt sich in Umfragen jedoch extrem schwer fassen. Das liegt vor allem am sogenannten „Overreporting“: Die meisten Menschen gehen davon aus, dass es sozial erwünscht sei, sich an der Wahl zu beteiligen. Viele behaupten deshalb in Umfragen, dass sie zur Wahl gehen würden. Vergleicht man die erhobene Wahlbeteiligung in Umfragen und bei realen Abstimmung, so kann der Unterschied in der Wahlbeteiligung gut und gerne 20 Prozent betragen. Dieser Effekt wird noch dadurch verschärft, dass ein größerer Teil der Nichtwähler dazu neigt, die Teilnahme an Umfragen zu verweigern.
Themen des SPD-Wahlprogramms
Die SPD will einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Bei gleicher Arbeit sollen Leiharbeiter den gleichen Lohn bekommen wie fest angestellte Kollegen. In Vorständen soll eine Frauenquote von 40 Prozent die Gleichberechtigung stärken.
Mit einer Neustrukturierung des Kindergelds sollen Familien mit geringen und mittleren Einkommen davor bewahrt werden, auf Hartz-IV-Niveau abzurutschen: Familien mit einem Einkommen bis 3000 Euro können mit dem bisherigen Kindergeld von 184 Euro und einem Kinderzuschlag von 140 Euro auf bis zu 324 Euro pro Monat kommen.
Die SPD will eine Solidarrente von 850 Euro für Geringverdiener, die mindestens 30 Beitragsjahre aufweisen können. Die Frage des künftigen Rentenniveaus ist noch offen. Die SPD-Linke will verhindern, dass es von rund 50 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns bis 2030 auf bis zu 43 Prozent absinken kann. Ost-Renten sollen bis 2020 stufenweise auf West-Niveau angeglichen werden.
Die SPD fordert die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent für hohe Einkommen und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Steuerbetrug soll stärker bekämpft werden.
Bei Neuvermietungen soll die Miete nur maximal zehn Prozent über ortsüblichen Vergleichspreisen liegen. Bei bestehenden Verträgen soll es nur noch eine Erhöhung um maximal 15 Prozent binnen vier Jahren geben. Die SPD will mit einem Milliardenprogramm den sozialen Wohnungsbau stärken, um Druck von den Mieten zu nehmen.
Die SPD setzt sich für eine Finanztransaktionssteuer ein und pocht auf ein Trennbankensystem. Geschäfts- und Investmentbereich sollen stärker getrennt werden, damit Risiken für den Steuerzahler gemindert werden. Die Institute sollen europaweit aus eigenen Mitteln einen Rettungsschirm aufbauen, damit der Staat bei Schieflagen nicht haften muss. Zudem soll es ein Verbot von Nahrungsmittel- und Rohstoffspekulationen geben.
So werden auch die möglichen Schwankungen zwischen Umfragewerten und der tatsächlichen Abstimmung immer größer. Denn in die veröffentlichten Umfragen gehen nur die Parteipräferenzen der Befragten ein, die sich auch an der Wahl beteiligen wollen. Damit birgt jede Umfrage zwei Unbekannte: Man könnte sie als „Scheinwähler“ und „scheintote Wähler“ bezeichnen. Die Scheinwähler geben an, wählen zu wollen, obwohl sie es gar nicht vorhaben. Die Scheintoten wiederum fallen aus der Zählung, weil sie nicht sicher angeben, zur Wahl gehen zu wollen. Würden massive Verschiebungen in diesen beiden Gruppen auftreten, könnte das zumindest theoretisch das Wahlergebnis auf den Kopf stellen. Ob das praktisch möglich ist, hängt davon ab, zu welchen Parteien die jeweiligen Wähler neigen. Würden alle „Scheinwähler“ zur CDU und alle „scheintoten Wähler“ zur SPD neigen, könnte eine gute Mobilisierung den Genossen tatsächlich noch den Sieg bringen.
Über die scheintoten Wähler weiß man vor allem, dass es ziemlich viele sind. So ergab eine Forsa-Befragung, dass nur 14 Prozent aller Nichtwähler dauerhafte Wahlabstinenzler sind. Das bestätigen auch die uns vorliegenden Daten der German Longitudinal Election Study (GLES) zur Bundestagswahl 2009. 30 Prozent der Befragten gaben dabei an, sich an mindestens einer der vergangenen drei Wahlen im Bund, Land oder in Europa nicht beteiligt zu haben. Alle Wahlen versäumt hatten aber nach eigener Angabe nur gut sieben Prozent der Befragten.