Für Wahlkämpfe gilt im Kern das gleiche wie für alle anderen Trends: Was gestern in den USA erfunden wurde, ist morgen in Deutschland der letzte Schrei. 1998 waren die ersten großen Wahlkampfshows der neue Trend, 2002 das Kanzlerduell im Fernsehen. In diesem Jahr könnten es neue Prognoseverfahren sein. In den USA haben die bereits 2012 überragende Ergebnisse geliefert und die klassischen Meinungsforscher in den Schatten gestellt.
Mal wird dabei auf Wahlausgänge gewettet, mal werden Wahlkreise analysiert oder Online-Kommentare gezählt. Gerade über die stetig wachsende Öffentlichkeit im Internet sind in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Informationskanälen zugänglich geworden, die über Stimmungen der Wähler Auskunft geben können.
Weil auch die klassischen Meinungsforscher in Deutschland diese neuen Möglichkeiten weitgehend ignorieren, werden jetzt andere aktiv.
Dabei lassen sich grundsätzlich drei Herangehensweisen unterscheiden. Zum einen werden Wahlabsichten untersucht, dann handelt es sich um Erweiterungen der klassischen umfragebasierten Methoden. Dazu gehört auch die Master-Projektion der Wiwo-Wahlsager. Andere Modelle basieren auf quantitativen Modellen, Schätzungen sind hier mehr oder weniger unabhängig von Stimmungsschwankungen während des Wahlkampfs.
Die Anti-Euro-Thesen der „Alternative für Deutschland“
Wir fordern eine geordnete Auflösung des Euro-Währungsgebietes. Deutschland braucht den Euro nicht. Anderen Ländern schadet der Euro. (Quelle: Parteiprogramm)
Wir fordern die Wiedereinführung nationaler Währungen oder die Schaffung kleinerer und stabilerer Währungsverbünde. Die Wiedereinführung der DM darf kein Tabu sein.
Wir fordern eine Änderung der Europäischen Verträge, um jedem Staat ein Ausscheiden aus dem Euro zu ermöglichen. Jedes Volk muss demokratisch über seine Währung entscheiden dürfen.
Wir fordern, dass Deutschland dieses Austrittsrecht aus dem Euro erzwingt, indem es weitere Hilfskredite des ESM mit seinem Veto blockiert.
Wir fordern, dass die Kosten der sogenannten Rettungspolitik nicht vom Steuerzahler getragen werden. Banken, Hedge-Fonds und private Großanleger sind die Nutznießer dieser Politik. Sie müssen zuerst dafür geradestehen.
Wir fordern, dass hoffnungslos überschuldete Staaten wie Griechenland durch einen Schuldenschnitt entschuldet werden. Banken müssen ihre Verluste selbst tragen oder zu Lasten ihrer privaten Großgläubiger stabilisiert werden.
Wir fordern ein sofortiges Verbot des Ankaufs von Schrottpapieren durch die Europäische Zentralbank. Inflation darf nicht die Ersparnisse der Bürger aufzehren.
Schließlich können Prognosemärkte kreiert werden, die auf das Expertenwissen der Marktteilnehmer setzen. Ein Vergleich der Stärken und Schwächen soll zeigen, was diese Tools wirklich leisten.
Ein bereits etabliertes quantitatives Verfahren ist das Schätzmodell der beiden Wissenschaftler Thomas Gschwend und Helmut Norpoth. Sie beziehen drei Variablen in ihre Schätzung mit ein: die aktuellen Kanzlerpräferenzen, langfristige Wahlergebnisse und die Abnutzungstendenz einer Regierung. In die exakte Definition der Formel und die Gewichtung der Variablen fließen dabei alle Wahlergebnisse seit 1953 ein. Die empirische Datenbasis ist also relativ breit.
Aktuell sagt das Modell einen ungefährdeten Sieg (99 Prozent Wahrscheinlichkeit)der schwarz-gelben Koalition voraus. Bei den vergangenen Wahlen haben die beiden Forscher mal exakt das Ergebnis getroffen, lagen jedoch auch mal kräftig daneben. Sie mussten ihr Modell dann nach der Wahl anpassen, um das Ergebnis zu erklären. Man kann hoffen, dass die Formel mit jeder Wahl besser wird und solche Fehler seltener auftreten.
Ein echter Mangel ist jedoch, dass die Formel nur Koalitionsergebnisse vorhersagt, einzelne Parteiergebnisse werden nicht berechnet. Zum Ringen der FDP um den Einzug ins Parlament geben sie beispielsweise keine Informationen.
Ähnlich funktioniert das Political-Economy-Modell der französischen Wahlforscher Jérôme et al. Neben der Kanzlerpräferenz und den Wahlergebnissen beziehen sie dabei situative Faktoren, also zum Beispiel Koalitionsfragen mit ein.
Bei election erhält man neue Informationen
Vor allem aber setzen sie auf das Thema Arbeitslosigkeit. Wenn die hoch ist, so ihre Annahme, hilft das der Opposition, ist sie niedrig, der Regierung. Bei vergangenen Wahlen in den USA haben sie das Ergebnis recht gut getroffen. Ob das auch in Deutschland klappt, ist aber fraglich, da die Arbeitslosigkeit bei dieser Wahl erstmals nur eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint.
Das Modell von election.de basiert neben der Aggregation von Umfrageergebnissen auf Prognosen für einzelne Wahlkreise. Der Macher Matthias Moehl gibt zudem an, dass er Informationen über Stimmensplitting und taktisches Wahlverhalten einbeziehe, wie genau das funktioniert, behält er aber für sich. Das Modell hat bei vergangenen Wahlen recht gut funktioniert und zudem den Vorteil, dass es mit den Wahlkreisschätzungen eine neue Information erschließt, die sonst außen vor bleibt.
Im deutschen Verhältniswahlrecht wirken sich die Erststimmenergebnisse – gerade nach der Wahlrechtsreform – jedoch kaum auf die Sitzverhältnisse aus. Zudem sind sie in den meisten Kreisen sehr stabil. Auch die Tatsache, dass über die konkrete Methode wenig preisgegeben wird, macht eine Bewertung des Modells schwierig.
Ein besonders einfaches quantitatives Verfahren ist das naive Sonntagsmodell. Dafür werden die vergangenen drei Wahlergebnisse mit der aktuellen Sonntagsfrage kombiniert. So soll die tendenzielle Überzeichnung der Stimmungen in Umfragen ausgeglichen werden, ohne Transparenz einzubüßen. Darin liegt auch der Vorteil dieser Prognose. Liegen jedoch beide Quellen falsch, potenzieren sich diese Mängel. Der Prognose fehlt an dieser Stelle die Korrektur durch eine Variable, die zumindest ansatzweise unabhängig wäre. Zudem ist das Modell neuen Parteien gegenüber tendenziell zu skeptisch.
Prognosemärkte wie PESM oder die Handelsblatt-Wahlbörse übertragen die Marktprinzipien auf die Vorhersage von Wahlergebnissen. Dabei kaufen die Teilnehmer „Anteile“ von Parteien zum Kurs der aktuellen Umfragewerte, wenn diese dann steigen können sie mit Gewinn verkaufen. Dahinter steckt die Annahme, dass der Markt den fairen Preis – also die tatsächliche Stimmungslage – am besten kennt.
Bei Wahlen in den USA haben diese Börsen bereits erstaunlich gute Vorhersagen geliefert. Sie haben den Vorteil, dass bis zum Wahltag gehandelt werden, auch kurzfristige Stimmungsschwankungen können so abgebildet werden. Es bleibt jedoch fraglich, auf Basis welcher Informationen die Marktteilnehmer ihre Entscheidungen treffen. Womöglich werden ihre eigenen Einschätzungen durch die veröffentlichten Umfragen verzerrt.
Denn überzeugten Marktgläubigen wird dieser Einwand nicht abschrecken: Wenn die Menge der Teilnehmer nur groß genug ist, sollten sich diese Verzerrungen ausgleichen. Der gewichtigste Einwand basiert deshalb auch darauf, dass einige der Börsen nicht wie echte Märkte funktionieren. So kommt es beispielsweise auf der Handelsblatt-Wahlbörse regelmäßig zu massiven Verzerrungen, weil der Handel kostenlos ist. Das können Anhänger einzelner Parteien nutzen, um die Werte ihrer Partei nach Oben zu treiben. Gerade in den Reihen der AfD scheint es viele solcher Überzeugungstäter zu geben.
Neue Information aber dafür schwierige Auswertung
Social-Media-Prognosen wie das Wahl-o-meter oder das Wiwo-Tool basieren auf der Auswertung veröffentlichter politischer Meinungen in sozialen Netzwerken. Sie sind ebenso wie die election.de-Prognose vor allem deshalb interessant, weil sie eine neue Informationsquelle erschließen. Genau das macht ihre Auswertung aber auch besonders schwierig.
Denn die hier abgebildeten Beiträge stammen von einer Untergruppe der Internetnutzer, die in ihrer Gesamtheit schon Verzerrungen bei der Abbildung der Gesellschaft aufweisen. Als „Political Net Activists“(Renate Köcher und Oliver Bruttel 2011: 1. Infosys-Studie: Social Media IT & Society) werden jene Internetnutzer bezeichnet, die mindestens drei der folgenden Beteiligungsformen schon einmal politisch genutzt haben: Online-Unterschriftenaktion, Online-Abstimmung, Soziale Netzwerken, Kommentar auf Nachrichtenseite/im Chat, Blog, Twitter.
Man wird davon ausgehen können, dass die erfassten Meinungsäußerungen ausschließlich von solchen „Aktivisten“ kommen. Sie unterscheiden sich jedoch deutlich von der Gesamtbevölkerung: Der Männeranteil ist rund doppelt so hoch, sie sind deutlich jünger, verdienen deutlich mehr Geld als der Durchschnitt und sind deutlich höher gebildet.
Diese Verzerrung müsste statistisch ausgeglichen werden, was bisher jedoch aufgrund geringer Erfahrungen nicht möglich ist. Für die Zukunft versprechen diese Beobachtungen jedoch ein großes Potenzial: Zum einen dürfte die Zahl der „Aktivisten“ weiter zunehmen und damit die Verzerrung geringer werden. Zum anderen wird mit jedem Abgleich mit einem realen Wahlergebnis die statistische Korrektur einfacher.
Ein Vergleich der aktuellen Prognosen:
Projektion | CDU/CSU | SPD | FDP | Linke | Grüne | Piraten | AfD |
Wahlsager-Masterprojektion | 40,4 | 25,0 | 5,0 | 7,2 | 13,2 | 2,5 | 2,6 |
Political-Economy-Modell | 41 | 28 | 6 | 9 | 10 | 2,5 | 1,2 |
Election.de | 39 | 24 | 7 | 8 | 13 | 3 | 2 |
Naives Sonntagsmodell | 40,3 | 26,8 | 7,4 | 7,7 | 11,7 | 1,7 | 1,2 |
Prognosemarkt PESM | 36,0 | 24,0 | 7,2 | 7,1 | 12,2 | 2,8 | 7,3 |
Wahl-o-meter | 41,0 | 22,0 | 4,0 | 6,0 | 11,0 | 4,0 | 9,0 |
pollyvote | 39,4 | 24,7 | 6,1 | 7,0 | 12,5 | 2,4 | 4,2 |
All diese Verfahren zu kombinieren versucht das Projekt „pollyvote“ (http://pollyvote.ifkw.uni-muenchen.de/prognose/) von der Münchner Ludwig-Maximilian-Universität. Auf den ersten Blick scheinen dabei jedoch die Verzerrungen der Prognosemärkte etwas zu deutlich einzufließen. Sobald die geplanten Experteneinschätzungen verfügbar sind, könnte sich das jedoch reduzieren.
Was die Tools wirklich leisten, wird sich nach der Wahl zeigen. Schon jetzt sind sie aber eine interessante zweite Informationsquelle, weil sie entweder die Dynamik des öffentlichen Wahlkampfs abbilden (Börsen und Social-Media-Tools) oder gerade aufzeigen, wie wenig die öffentliche Dynamik das Gros der Wähler beeinflusst (quantitative Verfahren).