"Willkommen im Dorf" Wie Hilfe für Bürgerkriegsopfer aussehen kann

Die Bürger im rheinhessischen Jugenheim zeigen, wie Hilfe für Bürgerkriegsopfer dank engagierter Bürger aussehen kann. Die Initiative „Willkommen im Dorf“ scheint wie ein Gegenentwurf zu Heidenau.

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Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD, r) und die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD, 2.v.r.) nehmen in Jugenheim an einer Deutschstunde für Flüchtlinge teil. Quelle: dpa

Sarah Kirchhoff nimmt die gut sechzigjährige Syrerin herzlich in den Arm: „Sie war die erste hier bei uns“, sagt sie, und die Flüchtlingsfrau ergänzt mit dankbarem Lächeln: „seit Oktober“.  Zehn Monate schon wohnt die Frau aus Aleppo, deren Name nichts zur Sache tut, nun schon in Jugenheim, rund eine halbe Stunde vor den Toren der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz. Mit berechtigtem Stolz präsentiert die junge Pfarrerin Kirchhoff zusammen mit Bürgermeister, Landrat und Dutzenden Ehrenamtlern das, was sie in den vergangenen Monaten geschaffen und geschafft haben: eine vorbildliche Aufnahme und beginnende Integration von Flüchtlingen.

40 Ankömmlinge aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und nun auch Armenien haben in dem 1500-Seelen-Ort ein neues Zuhause gefunden. 30 bis 40 ehrenamtliche Helfer kümmern sich als Paten um die Neubürger, begleiten sie bei Behördengängen, bei Arztbesuchen, bugsieren die Gestrandeten ebenso sanft wie gezielt ins tägliche Leben. „Willkommen im Dorf“ heißt die Initiative, die unter Führung der evangelischen Kirchengemeinde entstanden ist. Anerkennung bringt der Besuch von Bundesbau- und Umweltministerin Barbara Hendricks.

Was Flüchtlinge dürfen

Als der Gast aus Berlin eintrifft, büffelt gerade eine Gruppe muslimischer Frauen im Deutschkurs. „Heute arbeiten wir mit der Uhr“, sagt die pensionierte Lehrerin, die nun noch einmal Unterricht gibt – für Erwachsene. „Halb Drei, Viertel vor Vier“, gibt sie vor, die Frauen sollen auf einer Uhr die Zeit einstellen. Der große Zeiger, das klappt, aber der kleine steht immer eine Stunde weiter als gewünscht. Ist aber auch nicht einfach. Acht Frauen sitzen um den Tisch, darunter vier mit Kopftuch und zwei mit schulterfreien Tops. Der multikulturelle Spielraum ist weit.

Heidenau als Kontrast

Was für ein Kontrast zu jener Flüchtlingsunterkunft, die Hendricks‘ Parteivorsitzender und Kabinettskollege Sigmar Gabriel ebenfalls am Montag besuchte. Der Wirtschaftsminister hatte spontan die Route seiner Sommerreise geändert und war ins sächsische Heidenau gefahren; dort hatte in den vergangenen Tagen ein rechtsradikaler Mob vor einem zur Behelfsbleibe umgemodelten Baumarkt randaliert und nachts Polizisten brutal angegriffen. „Das ist Pack, das sich hier herumtreibt“, klassifiziert der Vizekanzler die Gewaltchaoten.

Hendricks geht es nicht darum, im PR-Wettlauf zur sich jüngst noch verschärfenden Flüchtlingskrise auch ihr Gesicht zu zeigen. Sie hatte die Station im Mainzer Umland schon vor etlichen Wochen in ihr Besuchsprogramm eingebaut. Schließlich hat das Bauministerium in diesem Jahr den alljährlichen Wettbewerb zur „Initiative Ländliche Infrastruktur“ eigens dem Flüchtlingsproblem gewidmet. „In ländlichen Räumen willkommen“, lautet dieses Mal das Motto.

Jugenheim könnte da problemlos mithalten. „Auf dem Dorf ist manches anders“, sagt Kirchenvorstand Uli Röhm, der Kopf der Initiative. „Da gibt es keine Aufnahmestrukturen wie in großen Städten.“ Hier geht es nur mit engagierten Bürgern. „Unsere Flüchtlinge wohnen mitten im Dorf und nicht abgeschoben am Rand in Containern.“

Hürden im Alltag

Glücklich gefügt hat es sich hier in der Provinz, aber Zufall war es nicht. Als die Kirchengemeinde ihr Pfarrhaus aus finanzieller Not nicht halten konnte, griff der Landrat beherzt zu, kaufte das Gebäude und ließ es von kreiseigenen Kräften umbauen.

Drei Familien wohnen nun dort, im ehemaligen Gemeindesaal entstanden vier Ein-Zimmer-Appartements. Die Verbandsgemeinde mietete weitere Wohnungen an. Noch bevor das erste syrische Kriegsopfer ankam, hatten Bürgermeister, Verwaltung und Kirche ihre Einwohner und Nachbarn informiert. Und die reagierten anders als anderswo.

Länder mit der höchsten Zahl der Asylbewerber (2014)

Vom Gesangsverein bis zum Sportclub öffneten sich die Vereine für die Zuzügler, etliche Paten fanden sich für die Ankömmlinge. Wer im Sport engagiert ist, meldet die Schützlinge an, besorgt die Kleidung, bringt die Kinder zum Training. „Ein tolles Beispiel, wie man Flüchtlinge, wie man Menschen willkommen heißt“, lobt Landrat Claus Schick die Jugenheimer Aktivisten. „Und das krasse Gegenbeispiel zu dem, was wir derzeit in den Medien sehen und hören.“

Auch deshalb ist Hendricks nach Jugenheim gekommen. „Es geht darum, positive Beispiele zu zeigen, die ja die negativen bei weitem übersteigen.“

"Dann müssen Sie eben in Aleppo anrufen"

Die Flüchtlingshelfer wollen freilich auch Kritik loswerden, weil sie im Alltag etliche Hürden entdecken, die die Neubürger allein nicht bewältigen könnten. Seit zehn Monaten wartet eine Frau aus Afghanistan auf die Entscheidung, ob sie in Deutschland bleiben darf. „Zwei Mal mussten wir nach Trier fahren, nur um Fingerabdrücke abzugeben“, schimpft ihre Patin. Jedes Mal eine Tagestour, für zehn Minuten Behördenbesuch. Dass die Asylverfahren viel zu lange dauern, habe die Bundesregierung erkannt, sagt Hendricks. Aber die 2000 neuen Stellen für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seien eben noch nicht besetzt. „Das müssen wir besser machen.“

Die nächste Petentin verlangt freie Fahrt in den örtlichen Bussen. Doch da lässt die Berliner Ministerin sich nicht erweichen. „Dafür ist das Taschengeld da.“ Patin Angelika Fingerhut empört sich, dass „eines der ersten Schreiben, die ein Flüchtling erhält“, die Zahlungsaufforderung der GEZ sei. Und ihre Mitstreiterin Carola Gaschow beklagt die bisweilen gedankenlose Kühle in den Amtsstuben. „Uns wurde gesagt: ‚Wir brauchen die Geburtsurkunde – dann müssen Sie eben in Aleppo anrufen‘.“ Doch da tobt der syrische Bürgerkrieg.

Draußen im Hof zeigt Rafi Keko der angereisten Ministerin stolz sein Fahrrad. Der taubstumme Syrer hat in der Garage des Pfarrhauses eine kleine Fahrradwerkstatt eingerichtet, repariert dort die Drahtesel, die die Trägerinitiative für die Flüchtlinge geschenkt bekommt. Sein eigenes Gefährt hat er technisch hochgerüstet, mit aufladbarer Batterie, an der sich Handys betreiben lassen, mit Blinkern – und mit einer Deutschlandfahne. Für den Hendricks-Besuch hat er sich in einen feinen Anzug mit lilafarbener Krawatte geworfen. „Hier sind Freundschaften entstanden“, sagt Pfarrerin Kirchhoff. „Wir sind jedes Mal traurig, wenn einer eine Wohnung findet.“ Integrationserfolge können also sogar weh tun.

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