Wenn man aber wie die Mehrheit der Mitglieder des Sachverständigenrates glaubt, dass Mindestlöhne eher schaden, dann wird man erwarten, dass diese negativen Wirkungen bereits heute auftreten. Unternehmen werden heute schon nicht mehr in neue Projekte investieren und die dann nach Meinung der Kritiker des Mindestlohnes zu teuren Arbeitskräfte einstellen.
Denn: Wenn diese Arbeitskräfte am 1. Januar 2015 zu teuer sind, dann wird man sie in der Regel nicht ein halbes Jahr vorher noch einstellen wollen, um sie dann bei Einführung des Mindestlohnes zu entlassen - was ja gerade in Deutschland nicht mit unerheblichen Kosten verbunden ist.
Wenn man Erwartungen in die Analyse mit einbezieht, zeigt sich eben, dass erwartete Entlassungskosten heutige Einstellungshindernisse darstellen. Mit anderen Worten: Der für nächstes Jahr erwartete Mindestlohn hat bereits heute konjunkturdämpfende Wirkungen.
Wer dagegen ganz linkskeynesianisch an die sogenannte Kaufkrafttheorie des Mindestlohnes glaubt und erwartet, dass vom Mindestlohn besonders arme und konsumfreudige Haushalte profitieren, was dann die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ankurbelt, der wird schon heute konjunktursteigernde Effekte erwarten.
Die Unternehmen werden heute schon investieren und heute schon Arbeitskräfte einzustellen versuchen, um von der zusätzlichen morgigen Nachfrage auch profitieren zu können. Ja, die zusätzliche Nachfrage mag gar heute schon kommen, da die betroffenen Haushalte wissen, dass sie nächstes Jahr mehr in der Tasche haben werden.
Und die Kanzlerin? Sie kann sich das einfach nicht vorstellen. Sie kann sich nicht vorstellen, wie ein bereits angekündigter und fest mit einer großen politischen Mehrheit beschlossener – und damit ziemlich sicher kommender – Mindestlohn die Erwartungen und Handlungen der Wirtschaftsakteure schon heute beeinflusst. Vielleicht liegt diese fehlende Vorstellungskraft ja an ihrem naturwissenschaftlichen Hintergrund, wo es keine erwartungsrückgekoppelten Systeme gibt, die eben in der sozialen Welt allgegenwärtig sind.
Merkels Aussage ergibt eigentlich nur Sinn in zwei Interpretationen: Entweder glaubt sie, dass Mindestlöhne überhaupt keine wirtschaftlichen Auswirkungen haben - weder heute noch morgen. Aber erstens geht das nicht aus ihrem Kommentar hervor und zweitens müsste sie sich dann fragen lassen, warum sie ihn überhaupt macht – nur weil die SPD es so will?
Oder aber sie glaubt, dass die Unternehmen tatsächlich gar nicht in die Zukunft schauen. Wenn das so wäre, hätte die Kanzlerin Recht. Aber Wirtschaftspolitik im Vertrauen darauf zu machen, dass die wirtschaftlichen Akteure so einfach gestrickt sind, gleicht einer Fahrt auf der Geisterbahn - aber keiner guten Politik.