Wohnungswirtschaft Vom Hof ins Hochhaus – und zurück?

Verlassene Dörfer, schlechtes Internet, meilenweit kein Arzt: Die Wohnungswirtschaft fordert die Stärkung ländlicher Räume und mahnt die Jamaika-Sondierer, bei der geplanten Eigentumsförderung genau zu differenzieren.

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Die Ruine einer ehemaligen Gaststätte mit der Aufschrift „Deutsches Haus“, aufgenommen in Krauschwitz (Sachsen). Das klassische Wirtshaus war früher aus fast keinem Ortskern in Deutschland wegzudenken. Doch seit Jahren geht es bergab mit dieser Institution - mit Folgen für das Leben und die Wirtschaft auf dem Land. Quelle: dpa

Berlin Wer auf dem Land lebt, braucht ein Auto, das ist weitestgehend Konsens. Aber selbst dann kann es in Deutschland bis zum nächsten Supermarkt fünfzehn Minuten, bis zum nächstgelegenen Arzt schon eine halbe Stunde dauern – von der nächsten Bar ganz zu schweigen. Deswegen ist das Leben auf dem Land gerade für junge Menschen oft eine Zumutung. Und genau das ist der Grund, warum sie zu abertausenden in die Städte ziehen. Auch wenn sie das größtenteils gar nicht wollen. Boomende Großstädte auf der einen, abgehängte ländliche Regionen auf der anderen Seite – so kann und darf es nach Meinung der Politik in Deutschland nicht weitergehen. Getan hat sich bisher allerdings wenig.

Um die Lebensqualität in Deutschland flächendeckend und langfristig zu sichern, müssten kleinere und mittelgroße Städte zu attraktiven, sogenannten Ankerstädten zukunftsfähig gemacht werden, forderte deswegen Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, am Dienstag in Berlin.

„Abwanderung vor allem junger Menschen betrifft nahezu flächendeckend alle ländlichen Räume in Deutschland“, sagte Axel Gedaschko, Präsident des Spitzenverbandes der Wohnungswirtschaft. „Und das, obwohl die schrumpfenden Regionen heute in weiten Teilen durchaus wirtschaftlich stark sind.“ Eine arbeitsmarktbedingte Abwanderungsnotwendigkeit bestehe nicht. Vielmehr klagten die dortigen Unternehmen über Fachkräfte- und sonstigen Arbeitskräftemangel. Die Entleerung ländlicher Räume habe mitnichten mit dem oft beschworenen Dreiklang von Arbeitslosigkeit, Armut und Abwanderung zu tun. Dass erst seit dem Wahlerfolg der Alternative für Deutschland (AfD) bei der Bundestagswahl im September von abgehängten Regionen die Rede ist, stört Gedaschko: „Man muss sich jenseits der AfD dieses Problems annehmen.“

Der Grund für die Abwanderung liegt vielmehr darin, dass junge Menschen keinen Grund zum Bleiben sehen. Zum Beispiel, weil die Infrastruktur schlecht ist, beobachtet auch Baukultur-Chef Nagel. Und das, obwohl nach einer Umfrage der Stiftung eigentlich weitaus mehr Menschen in einer Landgemeinde oder in einer Klein- oder Mittelstadt wohnen wollen – nur eine Minderheit von 21 Prozent bevorzugt die Großstadt.

Häufig liegen Wachstum und Schrumpfung gar sehr nah beieinander, wie das Marktforschungsinstitut Empirica ermittelt hat. Beispiele dafür sind Köln und der Rheinisch-Bergische Kreis oder Regensburg und der Landkreis Cham. Im Ergebnis drohen ganze Städte und Landstriche zu veröden – was im Übrigen auch für die Eigentümer einen massiven Wertverlust der dort vorhandenen Immobilien bedeutet.

Wesentlich dafür, dass sich Deutschland nicht weiter in boomende Hotspots und ländliche Regionen auf dem Abstellgleis spaltet, hält die Wohnungswirtschaft das schnelle Internet. „Langsames Internet wird in Deutschland zum Turbo für die Landflucht“, mahnte Gedaschko. Gerade bei höheren Bandbreiten drohe aber eine dauerhafte digitale Spaltung: Schnell in der Stadt, langsam auf dem Land. Dabei sei schnelles Internet kein Selbstzweck, sondern zwingende Voraussetzung für eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – so wie Wasser, Strom und Heizung. Der Ausbau der digitalen Infrastruktur in den ländlichen Räumen müsse darum absoluten Vorrang haben.

Nagel appellierte an die Gemeinden, ihre Ortskerne zu stärken und dafür die wesentlichen Infrastrukturen und die verfügbaren Investitionsmittel zugunsten der Ortsmitte zu stärken, um Abwanderungsregionen zu stärken und dadurch auch den Zuwanderungsdruck auf die Metropolen wie Berlin, München oder Hamburg abzuschwächen. Als Positivbeispiel nannte er Neuruppin. Dieser brandenburgischen Stadt gelinge es durch Rückbesinnung auf seine Mitte, sich als regionale Alternative zu positionieren.


Spagat zwischen Wohnungsknappheit und Leerständen

Momentan passiert aber meist das genaue Gegenteil. Deutschland habe 11.300 Gemeinden, weiß Nagel, „und 84 Prozent von ihnen weisen neue Wohnungsbauflächen aus, obwohl zwei Drittel dieser Gemeinden schrumpfen“. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die wohnungspolitische Förderung des Bundes sollten deshalb auf integrierte Lagen ausgerichtet werden, forderte er.

Das betrifft beispielsweise das Thema Eigentumsförderung, das vor allem Union und FDP angehen wollen und Inhalt der derzeitigen Jamaika-Sondierungen ist. „Wohneigentumsförderung sollte nur für den Erwerb, den Umbau und die Sanierung oder Ersatzneubau von selbstgenutztem Wohneigentum gewährt werden“, erklärte Gedaschko. Neubau am Stadtrand fördere Leerstand im Zentrum und Zersiedelung im Umland. „Immer neue Baugebiete an den Ortsrändern können dazu führen, noch halbwegs funktionierende Innenstädte zu beschädigen.“ Außerdem sollte der Fokus nicht auf den stark nachgefragten Hotspots liegen: „Das verschlingt nur zig Steuermillionen.“

Der Aufbau schnellen Internets ist aber nicht die einzige Herausforderung auf dem Land. Es braucht Kitas, Schulen und beispielsweise multifunktionale Dorfläden, in denen unterschiedliche Dienstleistungen gebündelt werden – beginnend beim Verkauf von Lebensmitteln über Paketannahme bis hin zu Reinigung, Kfz-Zulassungen, Handwerkerdienste sowie Beratungs- und Gesundheitsangebote.

Dafür sind nach Meinung der Wohnungswirtschaft dringend Öffnungsklauseln für bestehende Vorschriften und Regulierungen in strukturschwächeren Regionen notwendig. Außerdem sollte das bürgerschaftliche Engagement in der Nachbarschaftshilfe als eigenständiger gemeinnütziger Zweck steuerlich aberkannt werden.

Angesichts der heißen Phase bei den Sondierungsgesprächen einer möglichen Jamaika-Koalition forderte die Wohnungswirtschaft erneut mehr und vor allem bezahlbare Grundstücke, weniger Normen und Regulierung, eine Abkehr von der Preisspirale bei der Grund- und Grunderwerbsteuer, sowie einen Fokus auf den sozialen Wohnungsbau. Und es müsse über Stadtgrenzen zusammen geplant werden.

Nur so, heißt es, kann der Spagat zwischen Wohnungsknappheit in den Metropolregionen und Leerständen in den ländlichen Räumen bewältigt werden.

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