Wolfgang Kersting im Interview Gleich, gleicher... - ungleich

Der Philosoph Wolfgang Kersting über gefühlte Ungerechtigkeit, den Fluch materieller Distributionspolitik und die liberalen Grundlagen eines modernen Sozialstaates.

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Wolfgang Kersting, 61, ist Professor für Politische Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel

WirtschaftsWoche: Herr Professor Kersting, mehr Mitte, mehr Gerechtigkeit – das war das Ziel des modernen Sozialstaates. Heute stellen wir fest, dass der Sozialstaat vor allem gefühlte Ungerechtigkeit auslöst. Allerorten Opfer, Zukurzgekommene. Wie konnte es dazu kommen?

Kersting: Wir leben seit Langem in einem großzügig verteilenden Sozialstaat; das ist nicht ohne Folgen für unser Seelenleben geblieben. Wir haben Betreuungs- und Verteilungserwartungen, die bei sich verschärfenden wirtschaftlichen Bedingungen nicht mehr wie gewohnt vom allversorgenden Staat erfüllt werden können – und die durch die inflationäre Gerechtigkeitsrhetorik der Parteien und Verbände verstärkt werden. Der Gerechtigkeitsbegriff wird dadurch ausgehöhlt: Jede Gruppe kann ihre Besserstellungswünsche als Gerechtigkeitsforderung tarnen. Dieser hemmungslose Gebrauch des Gerechtigkeitsbegriffs wird durch den Umstand begünstigt, dass der Begriff der sozialen Gerechtigkeit keine feste Bedeutung hat. Und so werden unaufhörlich neue Gerechtigkeiten erfunden.

Und der Gerechtigkeitsbegriff verliert dadurch seinen elementaren Kern?

Jedenfalls ist es nicht so, dass ein allgemein akzeptiertes Gerechtigkeitsverständnis auf neue Bereiche angewandt würde, wenn wir von Teilhabe-, Chancen- oder Generationengerechtigkeit sprechen. Eher ist es umgekehrt: Es entsteht ein unbestimmtes Gefühl, dass „Gerechtigkeit“ auf immer neue Felder angewendet werden sollte. Darüber jedoch, was damit gemeint sein könnte, herrscht keine Einigkeit. Das Ärgerliche ist, dass der Gerechtigkeitsbegriff seit Platon der zentrale Begriff unserer kulturellen Selbstverständigung ist. Wir pflegen mit ihm die moralische Qualität der Institutionen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zu bewerten. Entsprechend vorsichtig ist man über die Jahrhunderte mit dem Gerechtigkeitsbegriff umgegangen...

...bis er in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg plötzlich Karriere machte, also just in dem Moment, als es in den Industriestaaten so viel materielle Gleichheit gab wie nie zuvor?

Genau. Das ist das Merkwürdige. Aber es gilt nun einmal, dass in einer Gesellschaft des Sich-Vergleichens mit zunehmender Gleichheit die verbleibende Ungleichheit immer wichtiger wird. So produziert die egalisierende Gerechtigkeit des Sozialstaats immer auch zuverlässig Ungleichheit und hat darum stets zu tun. Dabei wird vergessen, dass der Sozialstaat viel älter ist als die Gerechtigkeitsrhetorik. Ihm ging es ursprünglich nicht um Gerechtigkeit, sondern um Sicherheit: zunächst darum, unerträgliche Elendsfolgen abzufedern, später darum, Machtungleichgewichte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch institutionelle Vorkehrungen und die Etablierung von Sozialversicherungssystemen auszugleichen. Erst als die OECD-Staaten ein enormes Wohlstandsniveau erreichten, hat sich der Begriff einer verteilenden Gerechtigkeit entwickelt. Und die Politik hat sofort gespürt, dass er vage genug ist, um ihn für sich auszunutzen.

Wie ließe sich die Unschärfe des Gerechtigkeitsbegriffs aus der Welt schaffen? Wie ließe er sich schützen vor einer Politik, die seine Unschärfe ausbeutet?

Es ist nicht sicher, ob die Unschärfe grundsätzlich abgeschafft werden kann. Kriteriell unscharf sind letztlich alle Kernbegriffe unserer moralischen Selbstverständigung. Der Begriff der Gerechtigkeit ist nicht schärfer als der Begriff der Gleichheit oder der Freiheit. Der Unterschied ist, dass der Begriff der Freiheit keine rhetorische Karriere gemacht hat. Mit einer Politik der Freiheitsmehrung kann man die Wählerscharen keinesfalls so zuverlässig hinter sich bringen wie mit sozialstaatlichen Verteilungsversprechen – zumindest nicht hierzulande. Darum gibt es bei uns keine Freiheitspolitik, sondern verteilende Sozialpolitik. Und dadurch sind die Voraussetzungen geschaffen, dass sich jede Begehrlichkeit jeder lautstark auftretenden Interessengruppe als gerechtigkeitsmoralischer Anspruch verkleiden kann. Wer will schon gegen „Gerechtigkeit“ argumentieren?

Von Aristoteles stammt der Satz, Gerechtigkeit ist, Gleiche gleich zu behandeln – und Ungleiche ungleich. Lässt sich dieser Satz fruchtbar machen für ein elementares, nicht durch den Umverteilungsgedanken kontaminiertes Gerechtigkeitsverständnis?

Aristoteles’ Gleichheitsgerechtigkeit ist die rechtsstaatliche Gerechtigkeit, die sich auf das Prinzip der Gleichheit eines jeden vor dem Gesetz stützt. Die Gerechtigkeit der Ungleichbehandlung bezieht sich dagegen auf die Verteilung von Ehren, Posten und Anerkennungen. Und da gilt das Prinzip: Verteilung gemäß Würdigkeit und ethischem Verdienst: Der, der sich um das Gemeinwesen verdient gemacht hat, muss mit größeren Ehren ausgestattet werden als jemand, der ein weniger vorbildlicher Bürger ist. Aristoteles’ Gerechtigkeit dient also der Bekräftigung der ethischen Standards und damit der ethischen Selbsterhaltung des Gemeinwesens.

Die ethische Einbettung der Verteilungsgerechtigkeit ist in der Moderne nicht mehr anzutreffen; die Moderne orientiert sich am Paradigma des universalistischen Rechts. In welchem Zusammenhang stehen Recht und Gerechtigkeit?

Die Moderne begann, als die Überzeugung um sich griff, der gesellschaftliche Orientierungsbedarf lasse sich nicht mehr durch einen Rekurs auf den Willen Gottes decken. Das Verblassen der theologischen Weltsicht unter dem nüchternen Tatsachenblick der modernen Wissenschaft hat unser gesellschaftliches Selbstverständigungsvokabular radikal verändert. Die normative Grundlage, auf die das Gerechtigkeitsverständnis in der Moderne gestellt wird, ist die Menschenrechtsthese. Sie besagt, dass Menschen als Menschen unveräußerliche und allgemein verbindliche Rechte besitzen, die ihre Legitimität auch dann nicht einbüßen, wenn sie durch kulturelle Praktiken, gesellschaftliche Institutionen und politische Herrschaftsordnungen verletzt werden.

Insofern geht die Gleichheit der Freiheit voraus.

Natürlich. Das Freiheitsrecht ist ohne Rekurs auf die kategoriale Dominanz der menschenrechtlichen Gleichheit nicht erklärbar. Das Freiheitsrecht kann nicht heißen: zu tun, was man will. Das Freiheitsrecht meint, dass man ein Recht hat, seine Freiheit innerhalb allgemein anerkannter Regeln wahrzunehmen. Gerechtigkeit herrscht, wenn dieser menschenrechtliche Grundanspruch im Staat institutionellen Schutz erhält. Die Gerechtigkeit definiert einen Pflichtbereich der Gewaltvermeidung, der rechtsstaatlichen Sicherheit und der gesetzlich geschützten individuellen Freiheit, damit es allererst möglich ist, ein selbstverantwortliches Leben zu führen. Keiner hat das klarer ausgedrückt als Kant, für den das Recht der „Inbegriff der Bedingungen“ ist, „unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.

Bis hierhin gibt es mit dem Gerechtigkeitsbegriff keine Definitionsprobleme, oder?

Nein, seine Eindeutigkeit verliert der Begriff erst, wenn wir vom Bereich der Gewaltvermeidung auf den Bereich der Güterverteilung übergehen. Die distributive Gerechtigkeit kennt keinen konsensualen Bedeutungskern wie die politische Gerechtigkeit. Hier gibt es keine Evidenz, die eine klare Grenzziehung zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten erlaubt. Hier ist nahezu alles umstritten.

Deshalb hat ein Neoliberaler wie Friedrich August von Hayek den Begriff der sozialen Gerechtigkeit ganz aus dem Selbstverständigungsvokabular der Gesellschaft streichen wollen.

Ja, Hayeks These lautet – in zugespitzter Form: Der Begriff der Gerechtigkeit ist nur erfunden worden, um für politische Zwecke missbraucht zu werden. Hayek meinte, so etwas wie Verteilungsgerechtigkeit könne es in komplexen Gesellschaften überhaupt nicht geben. Das heißt, entweder halten wir die Freiheitsordnung unseres rechtsstaatlichen Gerechtigkeitsbegriffs aufrecht – dann müssen wir Verteilungsgerechtigkeit als Illusion verabschieden. Oder aber wir glauben, Verteilungsgerechtigkeit zentralbürokratisch durchsetzen zu können – dann aber landen wir in einer sozialistischen Diktatur.

Und – stimmen Sie Hayek zu?

Nein. Ich würde dem Begriff der Gerechtigkeit auch jenseits der Rechtsstaatlichkeit einen guten Sinn abgewinnen wollen. Natürlich bin ich davon überzeugt, dass unser bürokratisch überwucherter Sozialstaat zurückgeschnitten werden muss. Wir brauchen einen Sozialstaatsgärtner, der sich der Wildnis annimmt und die Triebe, die ins Kraut geschossen sind, kappt – und der das, was richtig ist, pflegt, damit der Sozialstaat funktionsgerecht arbeiten und sich bürgerfreundlich entwickeln kann. Wir können jedoch nicht in die Zeiten Kants zurückgehen und uns mit der gesetzlichen Koordination äußerer Handlungsfreiheit begnügen. Wir müssen den Rechtsstaat durch sozialstaatliche Institutionen ergänzen, ihn so ausbauen, dass möglichst viele dem Ideal einer selbstverantwortlichen Lebensführung entsprechen können.

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