Zufluchtstätte Familie statt Krise

Seite 3/4

Grafik: Scheidungen in Deutschland

Wie hilfreich die Familie in Notsituationen ist, erfuhr auch die Firma Grünenthal. Nach der Contergan-Katastrophe vor mehr als 40 Jahren stand das Aachener Pharmaunternehmen vor dem wirtschaftlichen Ruin – und konnte nur durch eine Finanzspritze der Eigentümerfamilie Wirtz gerettet werden. Der juristische Vergleich brachte das Unternehmen damals „an den Rand des finanziell Leistbaren“.

Der ostwestfälische Möbelhersteller Flötotto stand 2002 und 2007 vor dem Aus. Zunächst bewahrte Hubertus Flötotto das Unternehmen vor der Insolvenz; fünf Jahre später waren es sein Neffe Frederik und dessen Vater Elmar, die die Namensrechte der Markenmöbel retteten, 20 Mitarbeiter der alten Fabrik einstellten und nur ein paar Kilometer entfernt vom einstigen Standort in Gütersloh den Neuanfang wagten. „Es tat uns in der Seele weh, dass die über 100 Jahre alte Möbelmarke Flötotto verschwinden sollte“, sagt Frederik, der Chef des neuen Unternehmens. Wie viel Geld die Familie in die Hand nehmen musste, um die Rechte zu bezahlen und die Werkstätten einzurichten, will er nicht verraten. In Ostwestfalen kursieren Gerüchte, dass bis zur ersten Auslieferung mehrere Millionen Euro fällig waren. Dennoch war und ist Frederik als Vertreter der vierten Familiengeneration glücklich über die Entscheidung. Die Insolvenzen waren aus seiner Sicht das zwangläufige Ergebnis einer Führung durch familienfremde Manager, die nichts für den Familiennamen und die Marke empfanden. Heute werde Flötotto wieder „mit Herzblut und Leidenschaft“ geführt - „und es läuft trotz der Krise gut“.

Hochdramatisch geht es seit einem Jahr bei dem Unternehmen William Prym in Stolberg bei Aachen zu. Der fast 500 Jahre alte Hersteller von Handarbeitsartikeln, Textilverschlüssen und technischen Bauteilen für Autos, Handys und Elektrogeräte mit weltweit 3800 Mitarbeitern schien monatelang vor dem Aus zu stehen. Ein Geschäftsführer aus der Familie, der mittlerweile keine Verantwortung mehr trägt, hatte das Unternehmen an mehreren Kartellen beteiligt. Sein Nachfolger, der familienfremde Andreas Engelhardt, musste deshalb 67,5 Millionen Euro Bußgeld an die EU-Kommission überweisen – ein Fünftel des Jahresumsatzes.

Maximal zwei Stunden von Eltern entfernt

Um die Summe aufzubringen, benötigte Engelhardt Kredite, die am angespannten Markt nicht zu erhalten waren; eine von den Banken geforderte Kapitalerhöhung kam nicht zustande – und die streitenden Prym-Gesellschafter waren weder bereit, sich auf die Bedingungen eines interessierten Finanzinvestors einzulassen, noch eigenes Geld ins Unternehmen zu stecken. Erst Ende 2008, kurz vor dem Scheitern aller Bemühungen, siegt jenseits aller familiären Verstimmungen die Vernunft: Sieben Banken stellen die Liquidität sicher, zwei Bundesländer bürgen – und die Pryms sichern über Rückbürgschaften in Höhe von sechs Millionen Euro teilweise die Landeshilfen ab. Warum die Familie sich zu guter Letzt am Riemen riss? Für den Berliner Soziologen Hans Bertram ist die Sache klar: Unabhängig davon, ob man sich verstehe oder nicht: „In schwierigen Phasen sucht man Leute auf, denen man sich emotional verbunden fühlt – selbst wenn es sich um negative Emotionen handelt.“

Die Erfahrung aus früheren Krisen zeigt, dass Familien tatsächlich der Ort sind, an dem die Deutschen Zuflucht suchen, wenn ihre Betriebe in Not geraten, ihre Jobs verloren gehen oder die Gesundheit nicht mehr mitspielt. „Nach dem Krieg war es ganz selbstverständlich, dass die Flüchtlinge zunächst einmal bei Familienangehörigen Hilfe suchten“, sagt Bertram. Schließlich sei die Familie im kriegszerstörten, auch politisch und ideell ausgebombten Deutschland „die einzige Konfiguration“ gewesen, „die überhaupt noch funktionierte“.

Jenseits der großstädtischen Tendenz zur Individualisierung und unabhängig von allen angeblichen Generationenkonflikten, hat sich die Familie nach ihrer biedermeierlichen Verheiligung in den Fünfzigerjahren und ihrer Verdammung als paternalistisches Zwangssystem in den Siebzigerjahren ihre Identität und Bedeutung als Verantwortungsgemeinschaft erhalten. „Der Sozialstaat hat die binnenfamiliäre Verantwortung nicht etwa ausgehöhlt, sondern noch verstärkt“, sagt der Schweizer Soziologe Marc Szydlik, „denn die Bereitschaft des wechselseitigen gebens und nehmens erhöht sich, wenn man was zu geben und zu nehmen hat.“ Noch immer lebten neun von zehn erwachsenen Kindern, so Szydlik, maximal zwei Stunden von ihren Eltern entfernt. Und einer Umfrage von Allensbach zufolge, geben vier von fünf Befragten auf die Frage, wo sie zuerst Hilfe suchen würden, die Familie an.

Geburten in der Krise

Das alles hat zuweilen bizarre Folgen. In den USA, wo die Beschäftigten mit ihrem Job zugleich ihre Krankenversicherung verlieren und die sozialstaatliche Abfederung der Krise längst nicht so weich ausfällt wie hierzulande, erlebt die Ehe als Wirtschaftsverbund gerade ein unfreiwilliges Comeback. Aus schierer ökonomischer Vernunft dümpeln Paare, die sich scheiden lassen wollen, gemeinsam vor sich hin. Viele werden obendrein das gemeinsame Eigenheim nicht los und sitzen als Zweck-WG in der Falle. „Die meisten Häuser sind weniger wert als ihre Hypothek“, sagt der New Yorker Anwalt Raoul Felder. Die Folge: Die Scheidungsraten sind in den USA um fast die Hälfte gesunken.

In der Vergangenheit war es daher so, dass Krisen auch die Lust auf Familiengründung vorübergehend bremsten. Ein Blick in die Geburtenstatistik zeigt: Die beiden großen demografischen Übergänge, die einen langfristigen Trend zur Kleinfamilie kennzeichnen, verdanken wir kriegsunabhängigen Ereignissen – dem beachtlichen Wohlstandszuwachs während der Industriellen Revolution (1880–1933) sowie der Emanzipation der Mutter zur Frau und der Erfindung der Pille (1950–1990). Sowohl während der Weltwirtschaftskrise in den Zwanzigerjahren als auch in Ostdeutschland nach der Wende 1989 beschleunigte sich der Geburtenrückgang.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%