Zukunft der Arbeit Auf Abruf bereit

Handy und Tablet machen den Job flexibler. Doch Arbeitnehmer sind auch jederzeit erreichbar. Nutzt die Digitalisierung also allein den Unternehmen? Der Deutsche Gewerkschaftsbund will das glauben machen.

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Die Arbeitsbelastung hat durch die Digitalisierung zugenommen. Quelle: imago

Berlin In der Sprache der deutschen Personaler gibt es die Abkürzung „Kapovaz“. Das sperrige Kürzel steht für „Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit“. Gearbeitet wird dann, wenn der betriebliche Bedarf es erfordert, also etwa gerade viele Aufträge abzuwickeln sind. Für die Beschäftigten bedeutet das meist auf Abruf bereitzustehen.

Im digitalen Zeitalter wünschten sich die Arbeitgeber nun eine „Kapovaz mit App“, argwöhnt Michael Vassiliadis, Chef der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). Smartphone und Tablet geben den Takt der Arbeit vor. Gearbeitet wird auch nachts, wenn der Chef das wünscht. Und sei es nur, dass der Mitarbeiter noch rasch ein paar E-Mails beantwortet.

Vassiliadis und seine Kollegen aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) wollen zwar auch die Chancen sehen, die die Digitalisierung der Arbeitswelt bietet. Etwa die Möglichkeit, den Beruf besser mit Familie und Privatleben zu vereinbaren. Doch aus ihrer Sicht nutzt die größere Flexibilität, die moderne Arbeitsgeräte bieten, bisher vor allem den Unternehmen. Wenn die Gewerkschaften auf die Digitalisierung schauen, dann sehen sie eher schwarz.

Dabei stützen sie sich auch auf den neuen DGB-Index „Gute Arbeit“, eine jährliche Beschäftigtenbefragung zu den Arbeitsbedingungen in Deutschland. „Die Digitalisierung verschärft derzeit ein Problem, auf das die Gewerkschaften seit langem hinweisen: die zunehmende Arbeitsintensität und der damit einhergehende Druck und Stress“, klagt DGB-Chef Reiner Hoffmann.

Bei 82 Prozent der Befragten gehören E-Mails, Smartphones oder computergesteuerte Produktions- und Terminplanung zum Berufsalltag. Und fast jeder zweite gab an, dass für ihn die Arbeitsbelastung durch die Digitalisierung zugenommen hat. Einen positiven Effekt für die persönliche Work-Life-Balance sieht nur jeder Fünfte Befragte, 68 Prozent beobachten keine Verbesserung. Für Hoffmann ist deshalb klar: „Die Digitalisierung braucht Regeln, damit die Technik dem Menschen dient und nicht der Mensch der Technik“, sagt der DGB-Chef.

Die Gewerkschaften stehen nicht allein mit dem Anspruch, die digitale Arbeitswelt von morgen zu gestalten. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will nach einem intensiven Dialog mit den Sozialpartnern, Verbänden und Wissenschaftlern Ende November ihr „Weißbuch Arbeit 4.0“ vorlegen. Darin wird Nahles skizzieren, wo sie politischen Handlungsbedarf sieht, etwa beim Arbeitszeitgesetz. Hier hat sie schon angedeutet, dass dessen „starres Korsett“ nicht mehr zeitgemäß ist. Außerdem geht es der Regierung um eine Stärkung von Bildung und Weiterbildung, damit Beschäftigte vom digitalen Fortschritt nicht überrollt werden. Die Arbeitsministerin rechnet zudem mit einer höheren Zahl von Soloselbstständigen, die es besser sozial abzusichern gilt.


Ohnmächtig ausgeliefert?

Auch die Tarifpartner selbst waren nicht untätig. Hoffmann verweist etwa auf Betriebsvereinbarungen großer Automobilkonzerne, die ein Recht auf Nichterreichbarkeit definieren. Trotzdem hätten viele Beschäftigte das Gefühl, „ohnmächtig den großen Trends Digitalisierung und Globalisierung ausgeliefert zu sein“, glaubt Vassiliadis. Zu denken gibt den Gewerkschaftern vor allem, dass drei von vier befragten beschäftigten angaben, keinen oder nur geringen Einfluss auf die Art des Einsatzes digitaler Technik an ihrem Arbeitsplatz zu haben.

Nur 27 Prozent sehen durch die moderne Technik größere individuelle Entscheidungsspielräume. Demgegenüber fürchten 46 Prozent, dass der Einsatz von Smartphone oder Tablet dem Arbeitgeber mehr Möglichkeiten zur Kontrolle der Arbeitsleistung an die Hand gibt.

Vom „Weißbuch“ der Arbeitsministerin erwartet Hoffmann konkrete Antworten vor allem auf eine Frage: „Wie gelingt es, vor dem Hintergrund neuer Technologien Flexibilität so zu gestalten, dass höhere Arbeitszeitsouveränität erreicht werden kann?“ Beschäftigte sollten die Möglichkeit haben, ihre wöchentliche Arbeitszeit etwa zur Pflege von Angehörigen zu reduzieren und nach ein paar Monaten dann wieder auf die volle Stelle zurückzukehren. Genau diesen Rückkehranspruch von einem Teilzeit- auf einen Vollzeitjob will Arbeitsministerin Nahles noch in dieser Legislaturperiode ins Gesetzblatt bringen.

Die Wunschliste der Gewerkschaften ist allerdings noch deutlich länger: Sie reicht von mehr Mitbestimmung beim Einsatz digitaler Technologien, über die vollständige Erfassung der Arbeitszeit auch im Homeoffice, Wahlarbeitszeiten für die Beschäftigten und eine weiterbildungsoffensive. Sonst verfestige sich bei den Beschäftigten der Eindruck, „die Flexibilisierung kommt nur den Unternehmen zugute“, warnt Vassiliadis. Und wohin das führe, lasse sich an der wachsenden Zahl psychischer Erkrankungen ablesen. Sie sind die Ursache für 43 Prozent der Neuzugänge in Erwerbsminderungsrenten

Die Arbeitgebervereinigung BDA zeichnet freilich ein ganz anderes Bild der „Arbeit 4.0“ und werfen dem DGB vor, ein „interessengeleitet verzerrtes Bild“ zu liefern, „das den tatsächlichen Verhältnissen in der Arbeitswelt nicht entspricht und scheinwissenschaftlich ist“, wie BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter sagt. Studien unabhängiger Institutionen zeigten ein ganz anderes Bild: „Deutschland verzeichnet auch im internationalen Vergleich Spitzenwerte bei der Arbeitszufriedenheit.“

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