Zum 40. Todestag Wie Ludwig Erhard missbraucht wird

Heute vor vierzig Jahren starb der große Ökonom, Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard. Er bleibt viel zitiert - doch die Grundmelodie seines Denken wird sträflich ignoriert.

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Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) raucht eine Zigarre bei einem Interview am 9.10.1964 im Bonner Palais Schaumburg. Quelle: dpa

Von den meisten Büchern bleiben bloß Zitate übrig, stichelte der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec einmal: "Warum also nicht gleich bloß Zitate schreiben?" Was weiß der durchschnittlich gebildete Zeitungsleser heute noch von Immanuel Kant, Adam Smith und Karl Marx? Dass "Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" ist. Dass es "nicht die Wohltätigkeit des Bäckers, Brauers oder Metzgers ist, die uns satt macht, sondern sein Eigeninteresse". Dass Philosophen "die Welt nur verschieden interpretiert haben", es aber recht eigentlich darauf ankomme, "sie zu verändern". Wie entwurzelte Bäume liegen solche Zitate heute allerorts in der Geisteslandschaft herum: Überreste abgeholzten Denkens. Brennmaterial für Festtagsredner zum Verfeuern leichter Gedanken. Es ist wirklich traurig.

Besonders übel hat es Ludwig Erhard erwischt, die Ikone des deutschen Wirtschaftswunders. Von Erhard weiß man, dass er der "Vater der sozialen Marktwirtschaft" ist. Dass er die retweetfähige Formel vom "Wohlstand für alle" prägte. Und natürlich, dass er uns Deutschen eine wirtschaftspolitische Ewigkeitsweisheit ins Stammbuch geschrieben hat: "Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig".

Aber nein, halt, stopp, das war ja Karl Schiller von der SPD, der den Sozialdemokraten in den Fünfzigerjahren den Marxismus austreiben musste. Gott, was soll's? So ähnlich hat das damals sicher auch Ludwig Erhard gesagt. Und wenn nicht: So ähnlich hat Ludwig Erhard das damals sicher gemeint .Und wenn nicht: So ähnlich würde Ludwig Erhard das ganz bestimmt heute sagen. Oder meinen. Es ist wirklich traurig.

Drei Fakten zu Ludwig Erhard

Ludwig Erhard wird von Traumtänzern aller Parteien behandelt wie eine wirtschaftspolitische Jukebox. Alle stehen sie um ihn herum, spendieren ein paar Groschen, spielen sich gegenseitig ihre Lieblingsstellen vor und fordern die anderen zum Mitsummen auf. Allein die komplexe Harmonie von Erhards ökonomischem Denken - Preisstabilität und Sparwille, Wohlstand durch Wettbewerb, Erwirtschaften vor Umverteilen, selbstsorgender Bürger statt sozialer Untertan, Schutz des Konsumenten gegen Eigentumskonzentration und Machtwirtschaft - vermag niemand mehr zu vernehmen.

Keiner ist an einem ernsthaften Hinhören interessiert, an der historischen Einordnung seines singulären Wirkens, an der Würdigung seiner ordnungspolitischen Klarsicht in den beiden schwierigen Nachkriegsjahrzehnten. Jeder leiht sich bloß seine Autorität, spannt ihn für seine billigen Zwecke ein und verramscht ihn zum Zitatlieferanten, in der Hoffnung, dass ein wenig Abglanz vom Mythos "Ludwig Erhard" auch auf ihn fallen möge.

Das FDP-Urgestein Rainer Brüderle zum Beispiel hat zwar eifrig Standortpolitik zur Förderung des vermachteten Finanzwesens betrieben, war sich aber dennoch jederzeit sicher, dass Ludwig Erhard "heute in der FDP" wäre. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums kommt Sahra Wagenknecht (Linke) zu dem interessanten Schluss, dass eine Politik des "geplünderten Staats" und der "Marktentfesselung" Deutschland und Europa in ein "Schlachtfeld" mit "zertrümmerten" Mittelschichten verwandelt habe, weshalb Ludwig Erhard heute selbstverständlich "mit seinen Ansprüchen bei uns am besten aufgehoben wäre".

Fast harmlos wirkte dagegen der Annektionsversuch des ehemaligen Wirtschaftsministers Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der sich in einem Zeitungsinterview aufplustern durfte, Ludwig Erhard "in den vergangenen Jahren bereits mehrfach gelesen", ja: stets "auf dem Schreibtisch liegen" zu haben. Da konnte selbst Jürgen Trittin (Grüne) nicht widerstehen und ließ sich seinen Steuererhöhungswahlkampf von Erhard persönlich absegnen: Die geplante Vermögensabgabe sei nichts anderes als ein "Lastenausgleich, wie es ihn unter Ludwig Erhard für die Vertriebenen gab". Viel Feind, viel Ehr? Ludwig Erhard hat keine Feinde mehr. Nur noch falsche Freunde. Tiefer kann man nicht sinken.

Zehn Reden für die Ewigkeit
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Die scheinheilige Hochachtung, die man Ludwig Erhard erweist, wird nur noch übertroffen von der Respektlosigkeit, mit der man seine Maximen verhunzt: Man verbeugt sich vor dem Denkmal des Wirtschaftswunders und schändet sein Fundament. Der ehemalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) zum Beispiel will mit "Staat" und "Markt" auch "Freiheit" und "Sicherheit" in eine "neue Balance" bringen. Nun, warum nicht, genau darum ging es auch Ludwig Erhard vor sechs Jahrzehnten.

Allein, was meinten die beiden damit? Ludwig Erhard verstand unter einer "neuen Balance" das Durchsetzen einer neoliberalen Wettbewerbsordnung, die den Leistungswillen der Menschen stärkt und keine Konzentration von Macht zulässt. Ihm schwebte ein wachsamer Schiedsrichter-Staat vor, dessen sozialer Charakter vor allem darin besteht, die Kräfte des Marktes zu entfesseln. Produktivität ist für Erhard der Schlüssel für den Aufbau von Sozialkapital. Und Wachstum heißt "Wohlstand für alle".

Sigmar Gabriel dagegen versteht unter einer "neuen Balance" politische Globalsteuerung, ordnende Industriepolitik und die Kanalisation von Marktkräften. Ihm ist an der Durchsetzung eines "linksliberalen Manifestes" gelegen, so der Untertitel eines Buches aus der Feder seines Planungschefs Oliver Schmolke, er will die "Märkte bändigen" und den Kapitalismus "sozial zähmen". Staatliche Protektion ist für Gabriel der Schlüssel für den Aufbau von Sozialkapital. Und Umverteilung heißt "Wohlstand für alle".

Politiker verhunzen Erhards Maxime

Tatsächlich lässt sich ein größerer wirtschaftspolitischer Gesinnungsgegensatz zwischen Erhard und Gabriel kaum denken: Während Erhard noch nicht zu Wohlstand gekommene Deutsche in Zeiten hochprozentigen Wachstums lange vor Staatsverschuldung und umlagefinanzierter Rente zu Sparsamkeit, Währungsstabilität, Eigentumsbildung und Selbstvorsorge ermahnte, meinte Gabriel umfassend versorgte Deutsche in Zeiten geringen Wachstums nach Schuldenorgie und Sozialstaatsausbau mit immer weiteren Krediten und Programmen, mit Energiezuschüssen und Mietpreisbremsen versorgen zu müssen. Sparen? Wozu? Löhne rauf und Produktivität runter, schließlich leben wir Deutsche nicht etwa "über unsere Verhältnisse", so Gabriel, sondern "unter unseren Verhältnissen".

Der Kuchenbäcker-Erhard

Für Angela Merkel (CDU) wiederum, die Bundeskanzlerin, ist die soziale Marktwirtschaft vor allem deshalb ein verlässlicher "Kompass", weil sie ihr den Weg mal hierhin, mal dorthin weist. Vor zehn Jahren rief sie mit Ludwig Erhard die "zweiten Gründerjahre" aus, um mit Kopfpauschalen, Steuerradikalreformen und allerlei Deregulierungsversprechen "der schwersten wirtschaftlichen Krise seit 1949" den Kampf anzusagen. Seither verschärft sich dieselbe wirtschaftliche Krise zwar schleichend (Staatsschulden, Pensionslasten, Währungsstabilität), und doch optiert Merkel "im Zweifel für den Menschen", um mit Sigmar Gabriel höchst volksfürsorglich Mindestlöhne und Mütterrenten durchzuwinken.

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Im ersten Fall beruft sich Merkel auf den Kuchenbäcker-Erhard: "Es ist sehr viel leichter, jedem Einzelnen aus einem immer größer werdenden Kuchen ein größeres Stück zu gewähren, als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung des Kuchens ziehen zu wollen." Im zweiten Fall beruft sich Merkel auf den Kuchenesser-Erhard: "Das ist der soziale Sinn der Marktwirtschaft, dass jeder wirtschaftliche Erfolg... dem Wohle des ganzen Volkes nutzbar gemacht wird und einer besseren Befriedigung des Konsums dient."

Und, welche Merkel hat nun recht? Natürlich keine von beiden.

Kuchenbäcker-Erhard hatte damals gut reden. Er war Wirtschaftsminister, Vizekanzler und Regierungschef, als es noch viele Kinder, keine Arbeitslosigkeit, eine junge Industrienation, keinen Globalisierungsdruck, viel mittelständische Konkurrenz und Wachstumsraten von vier bis sieben Prozent gab.

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Das heißt, was immer Erhard dachte, dachte er sich - nationalökonomisch und weitgehend kleinwettbewerblich - in steigenden Linien, Zahlen und Kurven. Der Proletarier werde, Wettbewerb sei Dank, "bald nirgends mehr anzutreffen" sein, frohlockte Erhard 1957, und weil die Einkommen immer weiter stiegen und mit ihnen der Lebensstandard, sei es "auch nach sozialen Gesichtspunkten zumutbar, das Individuum in menschlicher Verantwortung zu halten, ja, es sogar stärker als bisher in diese Verantwortung zu stellen".

Individuelle Verantwortung

Wächst der Wohlstand durch mehr Markt, schrumpft nicht nur die Legitimität des Staates, ihn zu verteilen, so Erhard, sondern es wächst auch die individuelle Verantwortung, ihn zur Stärkung der "echten menschlichen Tugenden" einzusetzen: "Verantwortungsfreudigkeit, Nächsten- und Menschenliebe, das Verlangen nach Bewährung".

Wohlstand verpflichtet? Bereits drei Jahre später war Erhard davon selbst nicht mehr überzeugt: "Weniger arbeiten, besser leben, mehr verdienen, schneller zu Reichtum gelangen, über Steuern klagen, aber dem Staat Leistungen abverlangen - das alles kennzeichnet eine geistige Verirrung und Verwirrung, die nicht mehr zu überbieten ist."

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Wie gesagt: Erhard hatte gut reden. Sein Ordnungsruf war triftig, weil es damals nach Jahren der Not für jeden Deutschen steil aufwärtsging. Weil Wohlstand, Wirtschaftswachstum und Fortschritt noch Synonyme waren und rauchende Schlote Sinnbilder des Glücks. Weil sich ein nivellierter Mittelstand herausbildete, in dem "Maß und Mitte" (Wilhelm Röpke) herrschten. Und weil die soziale Marktwirtschaft noch von den bürgerlichen (und religiösen) Voraussetzungen lebte, die sie selbst nicht garantieren kann: von Bescheidenheit, Sparsamkeit, Triebaufschub und Leistungswillen.

Anders gesagt: Erhard schwebte nicht nur ein "Ideal der Stärke" vor; er konnte auch noch darauf zählen, es in der Wirklichkeit anzutreffen. Erhard vertraute nicht nur Menschen, die "sich aus eigener Kraft bewähren, das Risiko des Lebens selbst tragen, für ihr Schicksal verantwortlich sind"; er konnte ihnen im Vertrauen auf unbegrenztes Wachstum Tugendhaftigkeit auch leicht abverlangen.

Prinzipien nicht mehr tragfähig

Angela Merkel hat als Oppositionsführerin bis 2005, nach einer beispiellosen Expansion von Konsumismus, Genussfreude, Freizeitliebe und Anspruchsdenken, an die Wertbeständigkeit von Verantwortungsgefühlen und Wettbewerbsprinzipien erinnern wollen. Daran war im Prinzip nichts falsch, denn Kuchenbäcker-Erhard hat immer recht.

Nur hat Merkel damals verschwiegen, dass die Prinzipien von Erhards sozialer Marktwirtschaft insgesamt nicht mehr tragfähig sind, dass ihre Voraussetzungen nicht mehr stimmen. Dass Deutschlands Wirtschaft längst nicht mehr im Schwellenland-Tempo wächst und im globalen Wettbewerb mit wettbewerbsfeindlichen Staatskapitalismen steht.

Gesellschaft zerbröselt

Dass dem Land die Kinder ausgehen und Erhards unbegrenztes Wachstum an ökologische Grenzen stößt. Dass es Globalisierungsverlierer gibt, die dem Maximierungsprinzip des Shareholder Value zum Opfer fallen, dass das internationale Kapital sich ständig auf der Flucht befindet und steueroptimierende Konzerne am Mittelbau der deutschen Wirtschaft nagen. Dass Erhards "formierte Gesellschaft" langsam zerbröselt, weil Spitzenverdiener sich aus der Verantwortung stehlen und Niedriglöhnern die materielle Basis fehlt zur Bildung von Eigentum.

Merkel hat damals vom neuen deutschen Dienstleistungsproletariat Verantwortung verlangt und Finanzoligarchen, die längst an einer Refeudalisierung der Wirtschaft arbeiteten und von jeglicher Verantwortung entbunden werden wollten, nach dem Mund geredet. Mit Ludwig Erhard hatte das nichts zu tun.

Kann Ludwig Erhard uns heute also nur noch in gründlich verbogener Form erscheinen? Oder lassen sich aus seinem Denken nicht doch ein paar zeitungebundene Prinzipien herausfiltern, die kein Politiker sich zurechtdengeln kann? Vielleicht. Aber dazu muss man ein Paradox aushalten: Nur wer Ludwig Erhard radikal historisiert, wird mit ihm gegenwärtig was anzufangen wissen. Nur wer darauf verzichtet, ihn in vergleichender Absicht zu zitieren, wird ihn analogisierend verstehen.

Worauf also gründet der Mythos von Ludwig Erhard und der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland? Warum sind die Wirtschaftswunder-Jahre hierzulande eine Heldensage und die "Trente Glorieuses" in Frankreich nur eine glückliche Wachstumsphase nach dem Zweiten Weltkrieg?

Die Antwort ist ziemlich einfach: Weil Deutschland seine Souveränität verspielt und die Geschichte den deutschen Staat verneint hatte. Und weil Ludwig Erhard den (west-)deutschen Staat 1948 aus dem Geist der Marktwirtschaft gründete, noch bevor er sich staatsrechtlich konstituierte: "Seine Wurzel", schreibt der französische Philosoph Michel Foucault, "ist vollkommen ökonomisch."

Man kann daher die Bedeutung der Währungsreform (20. Juni 1948) und die Freigabe der Industriepreise (24. Juni 1948) nicht hoch genug einschätzen: Mit der Abschaffung der Planbewirtschaftung waren plötzlich nicht nur jede Menge Waren, sondern es war auch jede Menge Vertrauen in ein Deutschland im Umlauf, das keine starken und totalitären Züge mehr aufwies: "Der institutionelle Embryo" eines Staates, der gleichsam unter der Aufsicht des Marktes stand, erzeugte positive "politische Zeichen", so Foucault: Erhards dezentral organisierte Marktwirtschaft schuf die "Legitimität für einen Staat", der sich anschickte, ihr Garant zu werden.

Anders als in Frankreich (anders auch als in England und den USA), wo sich der (bestehende) Staat als "Modernisierungsagentur" verstand und (fast dasselbe) Wachstum durch "Planification" entfesselte, ist (West-)Deutschland im Geiste des Neoliberalismus aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges auferstanden. Wie konstitutiv und staatsbildend die soziale Marktwirtschaft damals war, zeigt das Beispiel der Sozialdemokratie: Sie musste sich anderthalb Jahrzehnte lang von ihren marxistischen Wurzeln trennen und vorbehaltlos auf die neoliberale Linie Erhards einschwenken, um überhaupt am politischen Spiel teilnehmen zu können. Erst 1963 erklärte Karl Schiller (SPD), dass jede Form von Planung der liberalen Wirtschaft abträglich sei. Drei Jahre später war er Wirtschaftsminister.

Erhard im Praxistest

Während also die souveränen Siegermächte an die planerischen Erfordernisse der Kriegswirtschaft anknüpften, die Umstellung auf eine Friedenswirtschaft mit staatlichen Impulsen steuerten und sozialpolitisch abfederten, unterzog Erhard das besetzte und zerstörte Deutschland dem Praxistest der neoliberalen Theorie.

Diese Theorie stammte fraglos von größeren Denkern, als Erhard einer war, und lag ihm fix und fertig vor. Aber die Kühnheit, mit der Ludwig Erhard damals Versehrten, Armen, Hungerleidern, Trümmerfrauen und heimkehrenden Kriegsgefangenen das freie Spiel der Preise und Marktkräfte zumutete; die Unbeirrbarkeit, mit der er trotz steigender Preise und Generalstreikdrohung Kurs hielt und eine Rückkehr zur Zuteilungswirtschaft verhinderte - das ist und bleibt eine politische Großtat.

Der historische Rang von Ludwig Erhard für die deutsche Geschichte wäre damit umrissen. Doch was bleibt von ihm? Welche seiner Ideen und Erkenntnisse sind noch heute von unschätzbarem Wert?

Ludwig Erhard Quelle: dpa

Wie aber konnte sich Ludwig Erhard seiner Sache so sicher sein? Alfred Müller-Armack, Walter Eucken, Wilhelm Röpke, auch Friedrich August von Hayek haben der neoliberalen Theorie schließlich je eigene Akzente verliehen. Dennoch waren die Wurzeln und Grundzüge der sozialen Marktwirtschaft bereits 1948 wie in Stein gemeißelt. In doppelter Abkehr einerseits von einem Liberalismus, der die Marktwirtschaft in den Zwanzigerjahren "zum Idol seiner Weltanschauung" pervertiert hatte und dem Irrtum erlegen war, "die Wettbewerbsordnung für eine Naturform gehalten zu haben, die keiner besonderen Pflege bedarf" (Müller-Armack) sowie andererseits von einem Faschismus, der als unheilvolle Melange aus Nationalismus, Sozialismus, Industrialismus, Vermassung und Tyrannei gedeutet wurde (von Hayek), gewann die neoliberale Theorie ihre spezifische Kontur.

Gefahr für die Gesellschaft

Alles, was auch nur entfernt nach Kartell, Kollektivismus und (Staats-)Allmacht roch, wurde als Gefahr für das Gewebe einer sozialen Gesellschaft selbstbestimmter Bürger markiert. Das ging so weit, dass sich von Hayek und Röpke bereits vor dem Ende des Krieges nicht einmal scheuten, in Großbritannien den nächsten Nazismus heraufziehen zu sehen, nur weil William Beveridge dort gerade dabei war, eine aus Steuermitteln finanzierte staatliche Gesundheitsversicherung für alle durchzusetzen.

Erhards Leitmotiv

An dieser Stelle gilt es, eine zweite Paradoxie auszuhalten. Denn ausgerechnet der historische Blick auf Ludwig Erhard zeigt, dass seine Rolle als Vater des Wirtschaftswunders einerseits relativiert werden muss, dass aber andererseits eine Rückbesinnung auf die ökonomischen Prinzipien, ja: auf den Geist des Neoliberalismus heute gebotener denn je ist.

Konkret gesprochen: Das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet - Erhard hin, Erhard her - keinen deutschen Sonderweg. Der ökonomische Aufschwung war das Ergebnis eines Nachfragestaus, fand überall in Europa statt und verdankte sich in Deutschland auch, aber nicht nur, der buchstäblichen Entfesselung der Märkte durch Ludwig Erhard.

Hohle Schmähungen

Auch die andauernden Schmähungen der Neoliberalen gegen Wohlfahrtsexpansion und Sozialstaatsaufbau klingen heute seltsam hohl: Wer sie seit sechs Jahrzehnten wiederholt, wenn er hinter jedem Zuwachs staatlicher Fürsorge eine Freiheitsberaubung wittert und hinter jeder sozialpolitischen Maßnahme eine Gleichmacherei, die die Spannkraft ihrer Nutznießer lähmt, steht am Ende wie ein blöder Phrasenspender da. Denn natürlich hat der Zuwachs an sozialer Sicherheit die Freiheit der Menschen nicht nur gelähmt, sondern auch gestärkt - und Deutschland noch dazu innerlich befriedet.

Liberalismus ist im Grunde eine gute Sache, aber der Begriff "liberal" wird zusehends von falschen Freunden verwendet oder gar missbraucht. Wer das Ideal der Freiheit verteidigen möchte, muss differenzieren.
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Umgekehrt hat die soziale Marktwirtschaft als doppelte Antwort auf Laissez-faire-Liberalismus und (National-)Sozialismus allein in Deutschland nicht nur staats-, sondern auch stilbildend gewirkt - bis man sich in den Siebzigerjahren von ihr abwandte und ihr reiches ideelle Erbe verschleuderte.

Erhards Leitmotiv Nummer eins - Erwirtschaften vor Verteilen - zum Beispiel steht nicht nur für den Grundsatz "Produktivitätsplus vor Lohnplus", sondern auch für die Sorge, dass freie, starke Bürger mit Mut, Kraft und Zivilcourage in die Arme eines tyrannisch gesinnten "Kolossalvormundes" Staat (Wilhelm Röpke) getrieben werden könnten, wenn dieser sich nur fürsorglich genug maskiert.

Lange bevor er tatsächlich Gestalt annahm, hat Erhard - auch in kulturkritischer Absicht - vor den Gefahren eines "sinn- und seelenlosen Termitenstaates" und der "Entpersönlichung des Menschen" gewarnt. Heute sind Sattheit, Überdruss, Langeweile und wohlfahrtsstaatlich gesponserte Daueraufenthalte im geistigen Niemandsland keine Randphänomene mehr, sondern so allgegenwärtig, dass man schon ihre bloße Verbreitung zum Anlass politischer Bearbeitung nimmt.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
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Amartya Sen Quelle: dpa

Zweitens: Ohne Währungsstabilität war für Ludwig Erhard die Marktwirtschaft "nicht denkbar". Stattdessen haben wir Schulden aufgehäuft und die Börsen mit der Bearbeitung von Krediten beauftragt, uns hohe Löhne genehmigt und dem Staat unser Steuergeld zur Umverteilung anvertraut, haben Mietwohnungen bezogen und im Gardasee gebadet, statt Eigentum zu bilden und uns vom Staat, so gut es geht, unabhängig zu machen.

Drittens: Ein Kartellgesetz war für Ludwig Erhard das "unentbehrliche wirtschaftliche Grundgesetz" - stattdessen haben wir die Konzentration von Besitz und Macht zugelassen, den Neoliberalismus zur "dumpfen Schrumpfformel für Minimalstaat, Deregulierung und Privatisierung" degradiert, so FDP-Chef Christian Lindner, und den Geldfetisch der Börsen zur Religion erhoben, auf dass sie uns von unseren Verbindlichkeiten erlösen.

Viertens: "Wohlstand für alle und Wohlstand durch Wettbewerb" standen für Ludwig Erhard untrennbar zusammen: "Das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt."

Und, was ist passiert? Wir haben den Wohlstand für gratis gehalten und uns zugleich mit einer staatlich gesteuerten Businessclass-Wirtschaft in Konkurrenz gesetzt (China, Russland), die fairen Wettbewerb verhöhnt.

Anders gesagt: Es geht heute nicht darum, sich auf die soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard zu berufen. Sondern darum, ihre Trümmer aufzusammeln.

Viel Arbeit ist es nicht. Das größte Vermächtnis des Neoliberalismus ist die kleine Zahl seiner ökonomischen Gebote von kanonischer Bedeutung. Preisstabilität und Sparwille, Wohlstand durch Wettbewerb, selbstsorgender Bürger statt sozialer Untertan, Schutz des Konsumenten gegen Eigentumskonzentration und Machtwirtschaft - viel mehr braucht es tatsächlich nicht für eine funktionierende Marktwirtschaft.

Natürlich müssen die Begriffe Eigentum, Freiheit und Wachstum heute anders gedacht werden als zu Erhards Zeiten: generationenübergreifend, mit Blick auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen weltweit, mit Rücksicht auf ökologische Knappheiten.

Misstrauen gegen die Marktwirtschaft

Nur muss man es nicht mit Rekurs auf eine "neue Balance" tun wie Sigmar Gabriel oder auf einen "dritten Weg" zwischen "Marktverherrlichung und Marktverdammung", wie Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne).

Hinter solchen Formeln verbirgt sich ein Misstrauen gegen die Kräfte der Marktwirtschaft - und kein Zutrauen in ihre ordnungspolitisch regulierte Entfesselung. Neoliberalismus also? Ein zweiter Versuch ist überfällig. Bis es aber so weit ist, liebe Etikettenschwindler in Berlin: Lasst Ludwig Erhard in Ruhe!

Dieser Text erschien erstmals 2014 in der WirtschaftsWoche.

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